Erschienen in der Phase 2 #49, Herbst 2014:
Zur Erinnerung an den Nationalsozialismus im familiären Gedächtnis
»Die ganze Zeit quatscht er vom Krieg, vom Don und von der Wolga. Jeden Tag erzählt er mir wie toll es in der Wehrmacht war. Opa, halt’s Maul!« (Terrorgruppe – Opa halt’s Maul!).
Der Text der Fun-Punkband Terrorgruppe, erschienen 1996 auf dem Album »Melodien für Milliarden«, zeigt zwei Punkte auf, die ich in diesem Text verdeutlichen will: Die Täter_innen haben nicht per se geschwiegen, und: Seit Erscheinen des Songs hat sich einiges getan. Scheinbar befindet sich der gesellschaftliche Umgang mit dem Erbe des Nationalsozialismus in den Familien in einem Wandel. Denn heutzutage scheint die Jugend an den einst als langweilig empfundenen Geschichten des Opas interessiert zu sein. Die Art und Weise der inzwischen propagierten Interessenbekundung ist jedoch kaum dazu geeignet, eine kritische Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Täter_innenschaft in den Familien und darüber hinaus anzuregen.
Hier sollen einige Aspekte des Wandels im »Familiengedächtnis« beschrieben werden. Zunächst werde ich diesen Begriff knapp erläutern, der vor allem genutzt wird, um den Umgang mit dem Nationalsozialismus in den Familien der Täter_innennachfahren zu beschreiben. Im Anschluss werde ich mich mit dem Film »Unsere Mütter, unsere Väter« beschäftigen, der in Deutschland als ein Anstoß für Gespräche über die Zeit des Nationalsozialismus innerhalb von Familien gefeiert wurde. Inwieweit er sich in aktuelle Formen familiärer Tradierungsmuster einfügt, soll ebenfalls Gegenstand dieses Versuchs einer gesellschafts-politischen Einordnung sein.
Sprechen, schweigen, vergessen, erinnern: Familiengedächtnis
Zunächst einmal ist davon auszugehen, dass die in den Familien tradierten Geschichten nicht zwangsläufig und unmittelbar historische Prozesse und Ereignisse wiedergeben. Versehen mit einem Filter, ohne dessen Berücksichtigung sie kaum zu entschlüsseln sind, sind sie eine spezielle Form der Quelle, die Auskunft darüber gibt, welche Erzählungen in den Familien erwünscht und erlaubt sind. Die in den Familien weiter gegebenen Geschichten befinden sich in einem ständigen Transformationsprozess, der von vielen Faktoren abhängig ist. Zu diesen Faktoren zählen individuelle Prozesse des Erinnerns, die immer auch das Vergessen beinhalten. Aleida und Jan Assmann, die eine viel zitierte Theorie des Gedächtnisses entwickelt haben, sprechen von einer »Dialektik von Erinnern und Vergessen«. Aufgrund eines Platzmangels des Gedächtnisses werde zwangsläufig vieles verworfen und vernachlässigt. Davon abgegrenzt werden kann das Verdrängen, das zumindest anteilig einem bewussten, aktiven Prozess folgt. Andererseits orientieren sich die Geschichten wie auch das selektive Verschweigen am gesellschaftlichen Referenzrahmen, also dem, was gebilligt, anerkannt, geächtet oder mit Scham belegt wird. Das Gedächtnis ist immer auch ein Produkt der Familie selbst und der Erwartungen der Gesellschaft. Beeinflusst wird die Tradierung weiterhin durch äußere Einflüsse wie Medien und andere kulturindustrielle Erzeugnisse. Die Weitergabe persönlicher Erfahrungen nennen Jan und Aleida Assmann »kommunikatives Gedächtnis«. Es ist auf die mündliche Überlieferung der vorangegangenen drei Generationen begrenzt, also auf etwa 80 Jahre.[1] Im Zusammenhang mit dem familiären Umgang mit dem Nationalsozialismus wird geradezu inflationär das Schweigen der Täter_innen beklagt. Demnach gelte es, dieses Schweigen zu brechen. Wer sich jedoch eingehender mit dem Verhalten der nationalsozialistischen Täter_innen nach 1945 beschäftigt, stößt unweigerlich auf eine Vielzahl von Äußerungen: sei es in Form von Memoiren, des offensiven Einklagens von Mitspracherecht (beispielsweise von ehemaligen Wehrmachtsoffizieren und -generälen bei der Geschichtsschreibung über den Zweiten Weltkrieg), auf Kamerad_innentreffen oder auch im familiären Rahmen als erzählte Kriegsgeschichten. Verschwiegen wurde jedoch – ob aus Scham, Schuldgefühl oder der Angst vor juristischen Konsequenzen – die Verbrechen, vor allem die Shoah und das Leid der Opfer. Dieses Schweigen hat vielerlei Wirkungen auf die Familienangehörigen. Der israelische Sozialpsychologe Dan Bar-On stellte in einer Studie fest, dass »unerzählte Geschichten oft mit größerer Macht von Generation zu Generation weitergegeben (werden) als Geschichten, die erzählbar sind«, denn die entstehenden weißen Flecken werden eigenmächtig mit Erzählungen gefüllt, die oft eine große Wirkmacht entfalten.
Der Umgang mit der Erinnerung an den Nationalsozialismus in den Familien wird häufig mit dem Bild desverminten Felds beschrieben. Um ein Verschweigen der nationalsozialistischen Verbrechen aufrecht zu erhalten, ist demnach kein direkter Zwang, nötig, vielmehr reiche die sprachliche Konvention: Man verstehe von allein, was als sagbar gelte und was nicht. So entsteht eine Hürde, die zu übertreten sich nicht viele wagen. Fast immer sind jedoch Ahnungen und Mutmaßungen darüber vorhanden, was dieses Schweigen bedeutet. Sie ersetzen die Leerstellen in den Gesprächen. So entsteht ein eigenes Narrativ der Nachfahren der Täter_innen, das sich auch aus Mythen speist. Beispielsweise sind bestimmte Familiengeschichten mit den Handlungen in Spielfilmen über den Nationalsozialismus kongruent. In der wohl bekanntesten Studie zum Thema, dem von Harald Welzer, Sabine Moller und Karoline Tschugnall verfassten »Opa war kein Nazi«[2] sind es etwa Szenen aus den Filmen »Die Brücke« oder »Im Westen nichts Neues«, die Eingang in die Geschichten finden. Sie bebildern Kriegserzählungen und verleihen ihnen zusätzliche Plausibilität. Dass von den Familienangehörigen der Täter_innengeneration Geschichten so erzählt werden, muss keinem ausgeklügelten Plan folgen. Vielmehr finden die verschiedenen visuellen Film- und Fernseheindrücke Eingang in die Erinnerung und werden in die Geschichten integriert.
Wenn Opa wie bei der Terrorgruppe ständig vom Krieg erzählt, dann liegt das auch einfach daran, dass er zu jener Zeit ein junger Erwachsener war. Vermutlich hat er nie wieder in so kurzer Zeit so viel erlebt. Geredet wurde auch, um sich zu rechtfertigen oder zu entlasten – oft bevor es überhaupt zu einer Anklage seitens der jüngeren Generation gekommen wäre. »Man hat ja nichts gewusst« kommt häufig dem »Ihr habt es doch gewusst« zuvor.
In »Opa war kein Nazi« wird konstatiert, dass die Angehörigen der Enkelgeneration ihre Großeltern aufgrund einer intergenerationellen Loyalität wahlweise zu Opfern oder Helden machen. Nicht nur übernehmen sie die Geschichten als Tatsachen, sondern dichten sie auch so um, dass sie ihren Großeltern zugutekommen. In einer Zufallsauswahl berichteten zwei Drittel der Befragten von Vorfahren, die entweder Opfer des Nazi-Regimes gewesen seien oder als Helden des Alltags Widerstand geleistet hätten.
Zwischen der familiären Erinnerung an den Nationalsozialismus und wissenschaftlichen Erkenntnissen gibt es eine deutliche Kluft. Gleichzeitig bietet ein Wissen über den Zweiten Weltkrieg keinen Schutz vor der Verzerrung und
Umdeutung der Geschichten zugunsten ihrer Urheber_innen. Wissen und Verdrängung können vor dem Hintergrund familiärer Loyalitätsverbindungen durchaus parallel funktionieren.
Meist sind diejenigen, die sich mit Nazi-Vorfahren beschäftigen damit in der Familie (und nicht nur dort) allein und müssen sich teils gegen heftige Widerstände zu Wehr setzen. Denn die Trutzburg Familie ist oft hermetisch geschlossen, nur in einzelnen Fällen werden ihr Brüche hinzugefügt und noch seltener bricht sie vollständig auseinander. Die Frage, warum manche beginnen, sich kritisch mit der Familiengeschichte zu beschäftigen und andere nicht, ist nicht einheitlich zu beantworten. Häufig wirkt ein äußerer Impuls, der nicht selten mit der Loslösung vom Herkunftsmilieu und anderen Lebensentwürfen verbunden ist.
Vereinzelt haben sich in allen Nachkriegsjahrzehnten Menschen auf konkrete Weise mit ihren Nazi-Vorfahren beschäftigt. Beispielhaft sei hier Thomas Harlan als ein vehementer Vertreter solcher Auseinandersetzungen erwähnt. Der Sohn des Jud-Süß-Regisseurs Veit Harlan zündete, bevor er sich jahrzehntelang auch literarisch mit seiner Herkunft beschäftigt, Kinos an, in denen nach wie vor Filme seines Vaters gezeigt wurden. Auch bei dem 1984 von Thomas Harlan gedrehten Film »Wundkanal«, gedreht mit dem sich selbst spielenden NS-Verbrecher Alfred Filbert, handelt es sich um eine Abkehr von der Nazivergangenheit, bei der auch Kontinuitäten thematisiert werden.
Unsere Täterinnen, unsere Täter: Sprechen und Erlösung
Als 1995 die erste Version der Wehrmachtsausstellung in Hamburg eröffnet wurde, gab es heftige sowohl positive als auch negative Reaktionen. Die starke Polarisierung und Emotionalisierung ergab sich unter anderem aus den schockierenden Bilder, mit denen die Täter_innen und ihrer Taten visualisiert wurden.[3] Den jahrzehntelang durch Geschichtswissenschaft, Erinnerungskultur und dem Militär reproduzierten Viktimisierungsdiskurs stellte die Ausstellung deutlich in Frage. Hannes Heer spricht im Vorwort des Begleitbandes von einer »Vernichtungsmoral« der Masse der Soldaten. Die Mannschafts-dienstgrade der Wehrmacht, so Heer, hätten sich zum Zeitpunkt des Überfalls auf die Sowjetunion »schon nicht mehr von der Mentalität der Himmlertruppe« unterscheiden lassen.[4] Zudem veranlasste die Ausstellung ihre Besucher_innen dazu, die eigene Familiengeschichte aufzugreifen und sich mit ihr auseinander zu setzen. Die Historikerin Ute Frevert bezeichnet diesen Vorgang als »Intimisierung« der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus.[5] Tatsächlich kam es – nicht allein ausgelöst durch die Ausstellung – Anfang der 2000er Jahre in Deutschland zu einer Welle kultureller sowie wissenschaftlicher Erzeugnisse, die sich mit Familiengeschichten im Nationalsozialismus befassten. Vor allem auf dem Gebiet der »Familienromane« spielt die Verstrickung der Kriegsgeneration in den Nationalsozialismus eine bedeutende Rolle.[6] Ein Höhepunkt unter den kulturindustriellen Produkten zum Thema ist der 2013 ausgestrahlte Film »Unsere Mütter, unsere Väter« (UMUV). 18 Jahre später bringt er die Wehrmacht in deutsche Wohnzimmer, wobei er weit davon entfernt ist, derartig polarisierte Diskussionen und einen Schwall der Abwehr auszulösen wie einst die Wehrmachtsausstellung. Die deutsche Öffentlichkeit ist sich nahezu einig im Lob und feiert seine vermeintliche Authentizität, während das Urteil in anderen Ländern negativer ausfällt. Kritik kam beispielsweise aus Polen aufgrund der Darstellung der Armia Krajowa, die im Film als ausnahmslos antisemitisch dargestellt werde. In den Vereinigten Staaten wiederum wurde in vielen Medien die Viktimisierung der Deutschen wie auch die filmische Qualität in Frage gestellt. Einige russische Medien sprachen von einer verharmlosenden Darstellung der Wehrmacht. Warum aber ist UMUV ein Film, der in Deutschland kaum Bauchschmerzen und Unmut auslöst, sondern gefeiert wird?
Unter den fünf Freund_innen, deren Geschichten hier erzählt werden, gibt es keine Person, die deutlich als Täter_in identifizierbar sein soll. Auch wenn sie sich vereinzelt schuldig machen – sie eint der Zweifel am Nationalsozialismus: ein Deserteur, eine Judenretterin, ein Jude, der sich den Partisanen anschließt sowie eine Krankenschwester, die zunächst eine Jüdin verrät, dann jedoch ein gutes Verhältnis zu einer polnischen Zwangsarbeiterin aufbaut. Selbst der zunächst überzeugt kämpfende Friedhelm erschießt schließlich einen Offizier des Sicherheitsdienstes anstatt seines jüdischen Freundes. Es handelt sich ohne Ausnahme um Identifikationsfiguren, denen man gern vergibt und die sich am Ende sogar einander vergeben. Wer Opfer und wer Täter_in ist, spielt im Grunde keine Rolle. Es soll schließlich veranschaulicht werden, wie alle Beteiligten in das »Grauen des Krieges« »hineingerutscht« sind. Wirklich grausam ist dabei nur das Handeln der Anderen, dasjenige der Protagonisten hingegen erscheint immer irgendwie verständlich.
Das Besondere an der Rezeption von UMUV war unter anderem, dass er als Anstoß familienbiografischer Auseinandersetzungen gefeiert wurde. Produzent Nico Hofmann äußert sich selbst in einem Interview mit der Jüdischen Allgemeinen deutlich über sein Interesse am historischen Stoff:
»Mich reizt generell der Themenkomplex Geschichte. Dabei spielt vielleicht auch ein bisschen verlorener Nationalstolz mit hinein. Durch das unfassbare Grauen des Dritten Reiches spiegelt sich eine Schuld wider – und deshalb überwiegt in meiner Generation ein komplett verkümmertes Nationalgefühl. Ich war jahrelang überhaupt nicht stolz, ein Deutscher zu sein. Ja, ich schämte mich sogar dafür.«
Gleichzeitig hat der Film – wer hätte das gedacht – mit seiner Familiengeschichte zu tun: »In Unsere Mütter, unsere Väter fließen über 20 Jahre Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie ein«, so Hofmann. Erfolgreich wurde sein Film dadurch, dass er die Deutschen bei ihren Wünschen abholte. Dazu scheint auch zu gehören, eine vom Vorwurf des »Mitmachens« befreite »Auseinandersetzung« führen zu können. Nicht wenige erhoffen sich von der Beschäftigung mit ihren Nazi-Vorfahren Absolution und Reinheit. Dabei sehen sich einige schon lange nicht mehr als politische Akteur_innen im vergangenheitspolitischen Diskurs, die als solche Verantwortung übernehmen sollten. Vielmehr sehen sie sich als Opfer, die den Prägungen durch die Familie und ihrem Gedächtnis hilflos ausgesetzt sind. Der eingestandenen Verdrängung folgt die gelungene Aufarbeitung und schließlich: die Heilung.
Geändert hat sich die Situation seit den neunziger Jahren nicht nur dahingehend, dass kaum noch Menschen leben, denen junge Menschen unangenehme Fragen stellen könnten.[7] Verändert haben sich darüber hinaus die Fragen, die den noch lebenden Angehörigen gestellt werden. Es wird deutlich, dass die Aufarbeitung in den Familien nicht per se einer emanzipatorischen Intention folgt, sondern sich diese auch einem nationalen Zweck unterordnen kann. Die Konsequenzen des Handelns der Täter_innen wie auch das Leid der Opfer spielen dabei praktisch keine Rolle. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die zeitgenössische Form der familiären Auseinandersetzung keineswegs mehr eine unangenehme, für Eklats sorgende ist. Die Trutzburg ist standhaft.
Die Unbefangenheit, mit der man sich nun dem »dunklen Kapitel« deutscher Geschichte auch in den Familien widme, wird als letzter Tabubruch begrüßt. Sogar die BILD fragt: »Wie bringe ich Opa zum Reden?« Jedoch scheint die Frage nicht zu lauten, »War Opa ein Nazi?«, sondern »Hat Opa auch gelitten?« Über das Schweigen
wird geschrieben, sogar über posttraumatische Belastungsstörungen, kurzum: über das Leiden der Täter. In diese erinnerungspolitische Wende der »Berliner Republik« fügt sich der Film Unsere Mütter, unsere Väter ein: Die seit den neunziger Jahren eingeläutete offensive »Aufarbeitung« hat das schambesetzte Verdrängen und
Beschweigen der Verbrechen abgelöst. UMUV gilt nun als Auslöser derselben Dynamik in den Familien. Sprechen darf dann auch am 24. März 2013 bei Günther Jauch im Anschluss an den ZDF-Dreiteiler die »Erlebnisgeneration«. Unter anderem funkelten hier die Augen eines Angehörigen der Wehrmacht-Division »Hermann Göring« auf. Neun Angehörige dieser Einheit wurden 2011 im italienischen Verona verurteilt, weil sie im Frühjahr 1944 an Massakern in Norditalien beteiligt waren, bei denen rund 400 Menschen ermordet wurden. Davon fällt in dieser Runde selbstverständlich kein Wort, stattdessen geht es um »schlimme Kopfschmerzen«, Dunkelheit und darum, dass es »auch Schönes« gegeben habe, so eine ehemalige Sanitäterin. Sie weiß außerdem zu berichten, es seien im Krieg Verwundete und Tote zu beklagen gewesen. Wirklich schlimm war für sie, beim
Vorgesetzten eine halbe Stunde nicht anklopfen zu können. Sollten durch den Film tatsächlich Gespräche in der Familie angeregt werden, sind es vielleicht einfach
diejenigen, auf die sich auch Täter_innen einlassen können. Schließlich geht es um ihr Leid und eine zur Schau gestellte Sympathie ihnen gegenüber. Passend schreibt Kia Vahland in der Süddeutschen Zeitung zuversichtlich, die Diskussion um die deutsche NS-Vergangenheit sei zu lange vom Bedürfnis der Abgrenzung von den Tätern geprägt gewesen. Sofern die Angehörigen der Erlebnisgeneration selbst nicht mehr leben, findet der Wegfall der Abgrenzung indirekt statt und formt so auch die Weiterentwicklung der Geschichten, die sich eher apologetisch an denen der Verstorbenen orientieren oder aber auf den selbst erfundenen oder zugunsten der Vorfahren zurechtgebogenen Geschichten basieren. Bestimmte Mythen werden bereitwillig aufgenommen, die nach dem Tod nicht mehr durch Gespräche zu füllenden Leerstellen je nach Blick auf den Vorfahren gefüllt. Sollte sich diese Tendenz durchsetzen, ist ein »vermintes Feld« gar nicht mehr nötig, ist man doch längt im Frieden zwischen den Generationen angekommen.
Der Ich-Erzähler des Textes der Terrorgruppe hat die Geschichten von Krieg und Kriegsgefangenschaft satt, als er bei seinem Opa auf der Couch liegt und eigentlich auf Geld für Stoff aus ist. Aktualisierte man den Text, und dafür steht auch UMUV, müsste er stattdessen an den Lippen des Großvaters hängen und ihn über seine Kriegszeit ausfragen. Das Resultat wäre vermutlich dasselbe: Opa erzählt seine Geschichten vom Krieg und von der Kriegsgefangenschaft. Die dritte und vierte Generation darf sich also kurz vor deren Ableben, befreit von ihrer Abgrenzung, die Geschichten anhören, die ihnen die Großmütter und Großväter schon immer erzählen wollten. Während eine vermeintliche Öffnung für das Sprechen und Erinnern angepriesen wird, findet lediglich eine Verschiebung des Erinnerten, Vergessenen, Besprochenen und Verdrängten statt. Nach wie vor werden die Vorfahren von ihren Nachfahren mit denjenigen Geschichten in Verbindung gesetzt, die den eigenen Wünschen am nächsten kommen. Es wird deutlich, dass die Aufarbeitung in den Familien keineswegs der Vorstellung einer kritischen oder Tabus brechenden Auseinandersetzung entspricht.
Die euphorisch gelobte Ambivalenz von UMUV, die vor allem aus den unterschiedlichen Charakteren herrühre, kann in diesem Fall auch als eine Strategie zur Relativierung gesehen werden. Niklas Frank, der zu denjenigen gehört, die sich bei der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in seiner Familie um Vehemenz bemüht, beobachtet diese Tendenz bei derlei Auseinandersetzung und sagt im Deutschlandfunk: »Ich habe es auch richtig satt. […] Man hat immer die Tendenz zu relativieren. Dass wir endlich mal rangehen und die Verbrechen unserer Vorväter anerkennen wie ein Fußballergebnis, und wer das nicht macht, kommt immer in so ganz abseitige, teilweise abstruse Philosophien, das führt nicht weiter. Und wenn Sie den Text [gemeint ist sein Buch Der Vater. Eine Abrechnung] genauer lesen, dann ist dahinter nur eines: Ich gebe keinen Zentimeter nach. Dieser Mann [sein Vater] hat wirklich den Tod verdient. Die haben keine Gnade walten lassen gegen niemanden.«
Eine Erkenntnis versprechende Chance wäre es, die Ambivalenz des Verhaltens der Täter_innen herauszuarbeiten, und das kann durchaus innerhalb von Familien geschehen. Es gilt, den Nationalsozialismus und sein Fortleben allerorts kenntlich zu machen. Abgeschlossen ist die Tat, jedoch nicht seine vielfältige Wirkmächtigkeit. Darauf ist der Blick zu richten, der sich wünschenswerter Weise vom Abstrakten entfernt, ohne der Nation zu dienen.
JOHANNES SPOHR
Der Autor lebt und arbeitet unter anderem als freier Journalist in Berlin und bloggt auf preposition.de.
[1] Zu einer Kritik an der Entpolitisierung und Enthistorisierung des »Assmann‘schen Gedächtnisparadigmas« siehe Cornelia Siebeck: In ihrer kulturellen Überlieferung wird eine Gesellschaft sichtbar? Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Assmann‘schen Gedächtnisparadigma, in: René Lehmann/Thorsten Benkel (Hrsg.), Formen und Funktionen sozialen Erinnerns. Sozial- und kulturwissenschaftliche Analysen, Heidelberg 2013.
[2] Harald Welzer/Sabine Moller/Karoline Tschuggnall, »Opa war kein Nazi«. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, Frankfurt a.M. 2002.
[3] Siehe hierzu, Hannes Heer, Das Haupt der Medusa. Die Auseinandersetzungen um die Ausstellung »Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941–1945«, in: ders. u.a. (Hrsg.), Wie Geschichte gemacht wird. Zur Konstruktion von Erinnerungen an Wehrmacht und Zweiten Weltkrieg, Wien 2003, 245–268.
[4] Hannes Heer/Klaus Naumann, Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941–1944, Hamburg 1997, 25–36, hier 30.
[5] Zitiert nach: Wiebke Gröschler, Der Wandel eines Täterbildes. Von der ersten zur zweiten »Wehrmachtsausstellung«, Köln 2008, 124.
[6] Siehe hierzu: Jan Süselbeck, Familiengefühle. Generationengeschichte und NS-Erinnerung in den Medien, Berlin 2014. 7 Die Historikerin Ulrike Jureit betont darüber hinaus dafür, dass in Deutschland ein »wachsender Anteil der Bevölkerung […] gar keinen familiären Bezug zu dieser Geschichte oder doch nur einen sehr entfernten« habe. Siehe »Jede Generation muss ihre eigenen Fragen stellen«, Sendung im Deutschlandfunk vom 29. Juli 2010.