Rezension in Konkret vom April 2015:
Von Johannes Spohr
Laut einer kürzlich erstellten Studie der Bertelsmann-Stiftung wollen 81 Prozent der Deutschen die Geschichte der Judenverfolgung „hinter sich lassen“, 58 Prozent wollen einen „Schlussstrich“ ziehen. Merkel und Gauck nannten dagegen am 27. Januar das Vermächtnis der Überlebenden ein „wichtiges Geschenk“ und sprachen von einer deutschen Identität, die es ohne Auschwitz nicht gebe.
Fernab des Mainstreams und des politischen Establishments will derzeit eine kleine Gruppe den hierzulande vorherrschenden Umgang mit Geschichte in Zweifel ziehen und durch ein Buchprojekt beschädigen. Statt positivistisch richtig will das AutorInnenkollektiv Loukanikos Geschichte anders schreiben. Es eint nicht nur das Unbehagen an dominanter wie auch an linker, marginalisierter Geschichtsschreibung, sondern auch an der Gegenwart sowie der Blick auf eine zu erkämpfende bessere Zukunft. Mal mehr, mal weniger diffus fühlen sich die Autorinnen und Autoren linken Bewegungen zugehörig, die diese Zukunft möglich machen wollen. Es gelte, „sich die Offenheit historischer Prozesse immer wieder vor Augen zu halten“.
Die Herausgeber/innen haben erstmals 2012 mit einer geschichtspolitischen Collage eine Debatte angestoßen, die vor allem in der Zeitschrift „Analyse & Kritik“ geführt wurde. Es gelte einen „linken“ Umgang mit Geschichte und die dazugehörigen Mythen zu problematisieren. Ende 2013 folgte eine Konferenz in Berlin mit dem Anspruch, kritische Wissenschaft und linke Geschichtspolitik zusammenzubringen. Auf der Grundlage der Konferenzbeiträge entstand nun ein „Lesebuch, das zum Flanieren und Umherschweifen einlädt“ (Loukanikos). In vier Kapiteln widmen sich Wissenschaftler/innen und politische Aktivisten (beispielsweise die Initiative für einen Gedenkort ehemaliges KZ Uckermark oder Faites votre jeu! im ehemaligen Knast in Frankfurt) Retroperspektiven: dem Ausgraben, Erinnern, Angreifen, Stören und Zweifeln.
Viele Beiträge machen deutlich, dass Loukanikos ein wichtiges Ziel bereits erreicht hat: Kontroversen in Gang zu bringen. Ungewöhnlich für einen Tagungssammelband, beziehen sich die Beiträger/innen fleißig aufeinander, spinnen Gedanken weiter oder verwerfen andere. Dabei kommt die jeweilige politische Verortung zu Tage: Neigt ein Autor zum Materialismus, hält es eine andere eher mit der Postmoderne. Während sich der Historiker Ralf Hoffrogge beispielsweise dafür ausspricht „die sozialistische Bewegung als Tradition kritisch anzunehmen“, argumentiert Cornelia Siebeck für eine „postapodiktische Gedächtnispolitik“, der es darum gehen müsse, „das Spiel zu dekonstruieren, das gespielt wird“. Sie solle keine scheinbare „Objektivität“ anstreben, sondern gesellschaftspolitische Fragen der Gegenwart stellen. Max Lill hingegen liefert ein „Plädoyer für die bewusste und emphatische Stiftung einer universalistischen Tradition von Emanzipationskämpfen“, die zwar „offen“, aber eben nicht beliebig sein solle. Das schließe auch einen Sinn für die Ambivalenz und die mobilisierende Kraft von Mythen ein. Der Scheu vor der Dekonstruktion setzen Christoph Schneider und Gottfried Oy das radikale Potential poststrukturalistischer Ansätze auch für die Zerlegung von vermeintlich historisch gewachsenen Selbstverständlichkeiten und für die Öffnung hin zur Möglichkeit von Veränderung entgegen.
Bei aller Pluralität der Inhalte fehlt die Kritische Theorie fast vollständig. So bleiben auch wichtige Fragen außen vor, die sich diese gestellt hat: Welche Bedingungen sind es, auf deren Grundlage nach Auschwitz Geschichte geschrieben wird? Welchen Begriff der Revolution kann man sich noch machen, ist er doch – nach Auschwitz – „angefressen“ (Adorno)? Und kann die „schwache messianische Kraft“, die Walter Benjamin aus den fragmentarischen Glücksmomenten der Vergangenheit und aus dem Verwerfen der Unterdrückung entstehen sah, nach der Shoa noch ein Movens sein? Die Offenheit der Geschichte, das kommt hier zu kurz, beinhaltet auch immer die Gefahr der Regression und kann somit nicht nur Hoffnung spenden, sondern auch als Drohung verstanden werden. „History is unwritten“, möchte man Pegida-Anhängern vor der Semperoper ebensowenig ins Ohr flüstern wie dem IS-Anhänger auf dem Weg ins Kalifat.
Explizit mit der Shoah beschäftigen sich die wenigsten der Beiträge. Befremdlich wirkt es, wenn David Meyer in seinem Beitrag behauptet, die Linke feiere seit dem neunziger Jahren einen „eigentümlichen“ Erfolg ihrer geschichtspolitischen Bemühungen: „Der Nationalsozialismus wurde zu einem zentralen negativen Bezugspunkt offizieller Erinnerungskultur … Die Opfer von Gewalt und Verbrechen wurden immer stärker in den Mittelpunkt gerückt.“ Zu vermuten ist, dass nicht nur viele unter schwierigen Voraussetzungen arbeitende Initiativen der achtziger Jahre und einige am Buch Beteiligte, sondern auch Betroffene wie etwa ehemalige Zwangsarbeiter/innen aus der Ukraine dieser Einschätzung widersprechen würden. Treffender kritisieren Oy und Schneider, dass der nationale Umgang mit dem NS und sein integrativer Sog dazu geführt haben, dass Linke annehmen, hier sei „nicht viel zu reißen“.
Der Sammelband liefert Einblicke in Ansatzpunkte linken geschichtspolitischen Engagements und kritischer Wissenschaft. Zu wünschen ist, dass Folgeprojekte pragmatische und vielleicht auch kämpferische Programme beispielsweise gegen die Geschichtsmythen der europaweit erstarkenden Rechten entwickeln. Für das ausgesprochen debattenfreundliche Projekt haben die Beteiligten jede Menge soziales, ökonomisches wie kulturelles Kapital aufgewendet, Drittmittel eingefahren, bei Selbstkritik nicht gespart und einen linken Publikumsverlag gefunden, der die „wissenschaftliche Schieflage“ (Loukanikos) der Konferenz wettmacht.
AutorInnenkollektiv Loukanikos (Hg.): History is unwritten. Linke Geschichtspolitik und kritische Wissenschaft. Ein Lesebuch. Edition Assemblage, Münster 2015, 400 Seiten, 19.80 Euro.
Zum Blog des AK Loukanikos geht es hier.
2 Kommentare
Kommentare sind geschlossen.