Diskussion: Für viele Linke ist der 9. Mai vor allem ein Erinnerungsevent
Von Lukas Eichner und Johannes Spohr
Erschienen in der Analyse & Kritik vom April 2017.
»Der 9. Mai 1945 war ein Festtag: Die Wüste des Krieges endete: Doch in fast jedem von uns hatte sich eine neue Wüste aufgetan, eine Wüste, die nie grünen wird: Die Erinnerung an die Lieben.« (Ilja Ehrenburg)
Der 8. bzw. 9. Mai hat als Tag der bedingungslosen Kapitulation des NS-Regimes für Antifaschist_innen in Deutschland eine identitätsstiftende Bedeutung. Abseits der Mehrheitsgesellschaft und scheinbar antihegemonial wird der »Tag der Befreiung« mit Demonstrationen, Partys und Festen zelebriert, fast so, als habe man selbst den Sieg errungen oder könne als Antifaschist_in das legitime Erbe dieses Sieges antreten. Gesteigerten Zulauf erhielt am 9. Mai in den letzten Jahren das 1949 errichtete Sowjetische Ehrenmal im Treptower Park in Berlin. Am »Tag der Befreiung« trifft man dort auf betagte Männer in mit Orden behangenen sowjetischen Uniformen, die Blumen entgegen nehmen. In Anlehnung an die in Russland verbreitete Gedenkaktion »Das Unsterbliche Regiment«, tragen Angehörige Bilder von Menschen die am Krieg teilgenommen haben umher. Musikgruppen geben sowjetische Kriegslieder zum Besten. Fahnen der DKP (Deutsche Kommunistische Partei), der »Donezker Volksrepublik« und des Moskauer Motoradclubs Nachtwölfe MC wehen nebeneinander, die Solidarisierung gegen den russlandfeindlichen Mainstream nimmt einen wichtigen Raum ein. Wer dort genau links und wer rechts ist, verschwimmt zusehends.
Schon in der DDR fanden am 8. Mai – angelehnt an das sowjetische Erinnerungsdatum – am Ehrenmal im Treptower Park Gedenkfeierlichkeiten statt. Sie dienten vor allem der Inszenierung eines antifaschistischen Staatskultes. In der Bundesrepublik dominierte über Jahrzehnte die Interpretation des 8. Mai als Niederlage, gegen den Begriff »Befreiung« wurde sich öffentlich verwehrt. Als Wendepunkt gilt die Rede Richard von Weizsäckers, dem damaligen Bundespräsidenten, vom 8. Mai 1985. Weizsäcker sprach sich für die Deutung der militärischen Niederlage Deutschlands als »Befreiung« aus, der 8. Mai sei ein »Tor in die Zukunft«.
Die Suche nach »der Geschichte«
Der mit der »Wiedervereinigung« gewachsene außenpolitische Handlungsspielraum der Bundesrepublik legte eine Geschichtspolitik nahe, in der Erinnerung vom Hemmnis zum Vehikel werden konnte und musste. Viele NS-Gedenkstätten wandelten sich in dieser Zeit von lokalen Basisinitiativen und Geschichtswerkstätten zu staatlich finanzierten und professionalisierten Einrichtungen. Auch die rhetorische Anerkennung der NS-Taten und ihrer Opfer sowie die zugehörige Imagepflege, die angestrebte »Erlösung durch Erinnerung« täuschen nicht darüber hinweg, dass dem 8. Mai bis heute in der Bundesrepublik keine große Relevanz beigeordnet wird. Deutlich wird dies auf der Ebene der politischen Repräsentation dadurch, dass sich keine einheitlichen Erinnerungspraktiken herausgebildet haben, geschweige denn, dass der 8. Mai als Feiertag begangen würde. Auch in anderen Fällen wird die Diskrepanz zwischen Rhetorik und Handeln deutlich. Noch 2013 lehnte die Bundesregierung eine finanzielle Unterstützung der Gedenkstätte Sobibór mit der Begründung ab, es habe dort keine »deutschen Opfer« gegeben. Dies zeugt nicht nur von kaltschnäuziger Erinnerungsabwehr, sondern darüber hinaus von schierer Unkenntnis der historischen Vorgänge. Die etwa 25.000 deutschen Jüdinnen und Juden, die in Sobibór ermordet wurden, werden so abermals aus der »Volksgemeinschaft« verbannt.
Im kollektiven Bewusstsein ist bis heute selbst für taktische Eingeständnisse kaum Platz. Wer dies bezweifelt, frage in der brandenburgischen Provinz nach der Verfolgung der Jüdinnen und Juden, in bayerischen Städten und Dörfern nach ehemaligen Zwangsarbeiter_innen, im niedersächsischen Nordenham nach ehemaligen Angehörigen der Wehrmachtselite. (1)Seit Jahrzehnten wenden sich Vertriebenenverbände gegen die Anerkennung der »Befreiung«. Akteure wie die »Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur« nehmen explizite Vergleiche des Nationalsozialismus mit der DDR vor. (2) Hinzu kommen Forderungen einer erstarkenden Rechten nach einer »erinnerungspolitischen Wende um 180 Grad« (Björn Höcke, AfD). Die Rede Weizsäckers bezeichnet Höcke als »gegen das eigene Volk« gerichtet. Äußerungen wie diese sind keineswegs neu, entfalten jedoch im Kontext des Aufschwungs der völkischen Rechten eine neue Wirksamkeit.
Der »Tag der Befreiung« als Erinnerungsevent
Einer wirklichen historischen Auseinandersetzung haben sich die meisten Akteur_innen, für die der 8. Mai eine herausragende Bedeutung hat – ob als geopolitische Ressource oder als identitätsstiftendes Moment – bis heute nicht angenommen. Der »Tag der Befreiung« scheint eher als eine Projektionsfläche für die Sehnsucht nach Widerspruchsfreiheit eigener Utopien und Gesellschaftsentwürfe zu fungieren. So wenn die die Leipziger Gruppe Prisma* am 8. Mai zu einer Party unter dem Motto »Wer nicht feiert, hat verloren.« lädt, um die eigene »leere Kasse« zu füllen“ (6), oder Stalinist_innen und Reichsbürger_innen am Sowjetischen Ehrenmal im Treptower Park ohne erkennbaren Widerspruch munter ihre politischen Pamphlete verteilen können.
Linke Gesten am »Tag der Befreiung« sind häufig nicht geeignet, unterschiedliche Facetten des Gedenkens zu integrieren. Die Komplexität des Zweiten Weltkrieges verschwimmt mit einer zunehmender Ritualisierung des Gedenkens daran. Es passt nicht ins Bild, dass die Sowjetunion im Zuge des Molotow-Ribbentrop-Paktes deutsche Antifaschist_innen an den Nationalsozialismus auslieferte. Der organisierte Massenmord an Jüdinnen und Juden wurde durch die »Befreiung« beendet, nicht jedoch alle Formen antisemitischer Verfolgung in West- und Osteuropa. Die befreiten Zwangsarbeiter_innen, vornehmlich aus der Ukraine und Belarus, haben bis heute keine angemessene Entschädigung aus Deutschland enthalten. Gewürdigt wurde ihre Situation jedoch auch in der Sowjetunion kaum – im Gegenteil – viele von ihnen wurden als vermeintliche Kollaborateur_innen mit den Deutschen verfolgt und interniert. Anerkennung erhielten einzig Angehörige der Roten Armee.
Dem Sieg voraus ging ein deutscher Vernichtungskrieg, der insbesondere in Osteuropa Millionen von Opfern forderte. Tausende Dörfer und Städte wurden zerstört und ihren Bewohner_innen die Lebensgrundlage entzogen. Die osteuropäischen Jüdinnen und Juden wurden durch die Nationalsozialisten und ihre lokalen Helfer_innen zu großen Teilen ermordet und erlebten die »Befreiung« nicht mehr. Im Katalog der Dauerausstellung der Gedenkstätte Yad Vashem heißt es zum 8. bzw. 9. Mai 1945: »In den Hauptstädten der besetzten Länder wurden die Sieger mit Jubel begrüßt, Juden hingegen hatten keinen Grund, sich zu freuen. Die wenigen Überlebenden wussten, dass sie keinen Ort hatten, an den sie hätten zurückkehren können.« (4)
Auch die USA sind für einige Linke ein beliebter Bezugspunkt als alliierter Siegerstaat. Jedoch spielt der 8. Mai in den US-amerikanischen Gedenkpolitik zum Zweiten Weltkrieg kaum eine Rolle. Stattdessen steht dort der D-Day, die Landung der Alliierten in der Normandie, im Mittelpunkt der staatlich organisierten Erinnerung.
Verengte Bilder über die »Befreiung« sind also zu erweitern, historische Widersprüche anzuerkennen und in eine Auseinandersetzung zu integrieren. Denjenigen, die eine Beschäftigung mit den Verbrechen in der Sowjetunion dazu nutzen, die Verbrechen des Nationalsozialismus zu relativieren, ist eine Perspektive entgegenzuhalten, die sich für die Schicksale der vom Nationalsozialismus Verfolgten und Ermordeten auch nach dem »Tag der Befreiung« interessiert. Dafür sind gerade auch die Biographien von Personen bereichernd, die Erfahrungen jenseits von gängigen Geschichtsnarrativen gemacht haben.
Wer nicht feiert hat also … verloren?
Stellen wir uns stattdessen einige Fragen: Wo sich in dem skizzierten Spannungsfeld wiederfinden? Wessen und was gedenken, mit welcher Perspektive und Haltung? Welche Slogans und Praktiken sind dafür brauchbar?
Zweifelsohne liegt es nahe, die Erinnerung an die Befreiung Europas vom Nationalsozialismus vor allem denjenigen zu widmen, die ihr Leben für diese Befreiung verloren haben und denen wir dafür dankbar sein sollten. Dazu zählen nicht nur männliche hochrangige Veteranen der Roten Armee und der anderen Alliierten, sondern auch die im Gedenken immer wieder Marginalisierten: jüdische Partisan_innen, Frauen in der Roten Armee oder die Menschen aus den Sowjetrepubliken, die außerhalb Russlands lagen. Dabei ist die Anerkennung von Diversität und Komplexität, insbesondere bei der Auseinandersetzung mit der Geschichte, von äußerster Bedeutung. Eine Linke, die die Wichtigkeit einer tiefgreifenden Auseinandersetzung auf allen gesellschaftlichen Ebenen auf ihre Fahnen schreibt, darf gerade nicht zugunsten von Mobilisierungspotential auf historische Verkürzungen zurückgreifen. Auch die Indienstnahme historischer Ereignisse durch Regierungen muss stets einer kritischen Betrachtung unterzogen werden, will man sich nicht einfach in ihr Fahrwasser begeben. Schon immer gab es im bundesdeutschen Diskurs auch Bestrebungen, sich die »Befreiung« anzueignen, zu behaupten, auch die Deutschen seien – ob Täter_in oder Verfolgte_r – an diesem Tag von der Unterdrückung befreit worden. Am Ende strahlt die Aussicht, endlich auch Opfer zu sein.
Wer es nicht dabei belässt, sich in dichotome Auseinandersetzungen einzureihen (»Der Feind meines Feindes ist mein Freund«), entdeckt mitunter interessante Perspektiven, an die anzuknüpfen sich lohnt, zum Beispiel durch eine Auflockerung des Staatszentrismus: »Der Bezug auf Nationalstaaten ist naheliegend und sinnvoll angesichts von Kriegshandlungen, die in der Regel zwischen Nationalstaaten geschehen. Es ist jedoch nicht der einzig mögliche und erkenntnisfördernde Bezug.«(5) Transnationale Perspektiven haben auch im Widerstand gegen den Nationalsozialismus eine Rolle gespielt.
Sofern Rituale angemessen erscheinen, müssen sie hinterfragbar bleiben, ebenso wie ihre Symbole und die, die sich Linke zu eigen machen. In einer solidarischen Auseinandersetzung müssen diejenigen Beachtung finden, die seit Ende des Zweiten Weltkrieges um die Anerkennung der »Befreiung« gestritten haben. Diese Rolle kam diversen, teils unter widrigen Bedingungen arbeitenden Basisinitiativen sowie Verbänden Überlebender der NS-Verfolgung zu (Beispielsweise die VVN-BDA, Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten). Mit dem 8. Mai verknüpft wurde beispielsweise die Neuauflage des Protests gegen das Gebirgsjägertreffen im bayerischen Mittenwald. Dort wurde versucht, auch explizit die Opfer des Nationalsozialismus und deren Angehörige zu berücksichtigen. Vor allem solchen Initiativen ist es zu verdanken, dass den massiven Zumutungen bundesrepublikanischer Erinnerungsdiskurse noch immer unversöhnlich begegnet und damit auch in aktuelle politische Auseinandersetzungen eingegriffen wird. Die Krise und Orientierungslosigkeit der Linken aber sind auch am »Tag der Befreiung« durch einfache Antworten nicht zu lösen.
Lukas Eichner ist Historiker und aktiv in verschiedenen geschichtspolitischen Initiativen. Johannes Spohr ist Historiker und Journalist.
Anmerkungen:
1) Siehe Beiträge auf preposition.de; In Nordenham führte ein Zeitungsartikel über die NS-Vergangenheit eines angesehen Bürgers zu einer kontroversen Diskussion in lokalen Medien, Vereinen und Parteien.
2) Anna Kaminsky, Geschäftsführerin der Bundesstiftung Aufarbeitung der SED-Diktatur, in: »Neue Selbstverständigung«, Frankfurter Rundschau vom 20.4.2015.
3) prisma.blogsport.de/2015/04/29/benefizparty-wer-nicht-feiert-hat-verloren
*Nachtrag: Es sei darauf hingewiesen, dass die Gruppe Prisma sich in vielerlei Hinsicht, teils über Biografien mit dem Nationalsozialismus und seiner Vergegenwärtigung beschäftigt und dabei auch vor der Kritik linker Mythen nicht zurückschreckt.
4) Zitiert nach: Radonić, Ljiljana: »Das Kriegsende in Gedenkmuseeen in Polen, Deutschland und Israel«, in: Klei, Alexandra, Stoll, Katrin, Wienert, Annika (Hg.): 8. Mai 1945. Internationale und interdisziplinäre Perspektiven, Berlin 2016, hier: S. 110.
5) Klei, Alexandra, Stoll, Katrin, Wienert, Annika (Hg.): 8. Mai 1945. Internationale und interdisziplinäre Perspektiven, Berlin 2016, S. 18.