John Holloway, Professor für Soziologie an der Universität von Puebla (Mexiko) und an der Universität Leeds, war gestern abend bei seinemVortrag in der Berliner Humboldt-Universität, den er auf Einladung der Rosa Luxemburg Stiftung hielt sichtlich froh, dass die Veröffentlichung seines neuen Buches Crack Capitalism mit dem, von ihm als „fantastisch“ beschriebenen, Jahr 2011 zusammenfiel. Arabischer Frühling, Europäischer Sommer, US-amerikanischer Herbst – so heißen nämlich in diesem Jahr die Jahreszeiten und das heißt für Holloway: Eine neue Zeitrechnung hat begonnen.Der trotz seiner linken Prominenz immer allzu bescheiden wirkende Mann mit der leisen Stimme und den zurückhaltend beschwörenden Gesten ist optimistisch: Es sei bei allen Verschiedenheiten vor allem eines, was die Verbindung dieser Bewegungen ausmache und das sei ein vielstimmiges „Nein“. Ein Nein, dass sich zwar nicht ideologisch gegen „das System“ richte, aber in einer ziellosen asymmetrischen Diskontinuität eine ernstzunehmende organisatorische Attacke „gegen den Staat, gegen den Kapitalismus“ darstelle. Dem zugrunde liege ein Wandel im antikapitalistischen Denken: Man habe begonnen, die Krise der abstrakten, entfremdeten und entmündigenden Arbeit zu erkennen, man beginne auch, sich ihr zu verweigern und zu entziehen. Die Macht des kapitalistischen Systems schwinde angesichts der wachsenden Anzahl von „No Go“-Areas, denen es sich zunehmend gegenüber sieht. Zutrittsverweigerung und cracks, Risse und Brüche auf seinen Wegen – diese seien die entscheidenden Waffen, um das, was ohnehin systemimmanent wackelt, kriselt und tödlich ist, endgültig zum Einsturz zu bringen.
Risse und Brüche spielten auch im unsichtbaren Hintergrundgemälde des Abends eine große Rolle. Holloways Metapher vom zugefrorenen See des Kapitalismus, auf den von allen Seiten Steine geworfen werden müssen, damit die Oberfläche bricht, bietet dem überwiegend jungen Publikum kreative Anknüpfungspunkte. Denn was passiert, wenn auch auf der anderen Seite des Sees Menschen stehen und Steine draufwerfen, sie dabei aber mir und meinen EisbrechergenossInnen blöde erscheinende Lieder singen, beten oder im schlimmsten Fall – nicht gut sehen? Und demzufolge auch mich nicht sehen, wenn ich mich auf sie zubewege und sie darum bitten möchte, nicht etwa das Steinwerfen, aber doch das Singen einzustellen?
Diese und andere Fragen nach dem „Wie weiter angesichts von Griechenland, Indignados, Occupy?“ blieben unbeantwortet, aber wohlgelobt, denn dass sie gestellt werden, darum ginge es doch, sagt Holloway, dem es auch schon in seinem letztem Buch Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen darum zu tun war, Ermunterungen auszusprechen für das „fragende Vorangehen“. Caminando preguntamos nämlich, wie es die Zapatistas vormachen, die Holloway das liebste Beispiel sind, wenn es darum geht, sich, statt der Übernahme der Macht mittels Revolution – von der wir ja sowieso nicht wüssten, wie wir sie eigentlich zu führen hätten – um eine Alternative zu bemühen und dass auch nicht erst in fernen Zeiten, sondern im Hier und Jetzt. Leider scheint die Alternative bei John Holloway vor allem vorzusehen, sich kollektiv auf die Bewirtschaftung landwirtschaftlicher Flächen zu konzentrieren – höflich reagierte das Publikum darauf aber weniger begeistert, als es sich angesichts der mehrfachen Wiederholung dieser Vorstellung hätte ausmalen lassen. Vielleicht lag es daran, dass Holloway eben ganz und gar nicht der „Papst“ ist, als den ihn eine Dame unbedingt sehen wollte. Mit John Holloway lässt es sich im Gegenteil sehr gut diskutieren und die Freude darüber war auch ihm recht deutlich anzumerken. Und so fielen die Zeiten für den auf deutsch gehaltenen Vortrag und die anschließende Diskussion auch nicht unangenehm auseinander, wie es in den Hörsaalgebäuden sonst meistens der Fall sein wird.
Beim Hinaustreten auf den grauslichen Hauptstadtboulevard schienen es – bei aller Skepsis gegenüber der ungerichteten, forderungslosen und daraus angeblich ihre Stärke beziehenden Massen – dann im Résumé doch recht schöne Aussichten: das kapitalistische Glücksversprechen zieht nicht mehr, die Macht des Geldes steht nicht mehr ausreichend als Integrationskitt zur Verfügung, die Zahl der Abtrünnigen steigt und, glaubt man dem Optimisten: sie beginnen über den Staat hinauszudenken. Und wenn es jetzt auf der Nordhalbkugel kalt wird und nicht nur die Reißverschlüsse an den Zelten, sondern auch die Seen zufrieren, nehmen wir uns ansonsten alle mal einen Steine und werfen los, was das Zeug hält. Besser als Inflationsangst oder Ziegen hüten ist das allemal.