Ein Gasthaus an einem großen See in Bayern, ein Familienbetrieb, in dem eng an eng gelebt, gearbeitet, gewirtschaftet, gebetet und gegessen wird. Dieser Mikrokosmos ist zwar nicht alles für seine BewohnerInnen, aber er ist dennoch so etwas wie ein eigenes kleines (deutsches) Reich, nicht das ganz Große, aber groß genug, um Nabel der Welt zu sein, ein „Mittelreich“ eben – und so heißt auch das Buch, das Joseph Bierbichler über diese Seewirtschaft geschrieben hat und das im Suhrkamp-Verlag erschienen ist.Bierbichler, Zeit seines Lebens Schauspieler, vor allem in Bayern, wo er bis heute in seiner Geburtsstadt Ambach am Starnberger See lebt, hatte, – laut ZEIT-Interview – , Mittelreich nicht geplant, sondern wollte eigentlich nur „Material sammeln“. Am Ende sei ihm dann diese Art Familien-Chronik „zugestoßen“.
Mittelreich ist Bierbichlers zweiter Roman. Der erste, Verfluchtes Fleisch, erschien vor zehn Jahren und war ein selbstgenüßlicher Racheakt am Theater. Das radikale Lästermaul, als das Bierbichler häufig beschrieben wird und als das er auch zuweilen in echt, quasi wie die fleischgewordene Axt im Wald der darstellenden Welt herumholzt, hat nicht zuletzt darin schon sein Talent zum Bösen unter Beweis gestellt.
Und jetzt: Ein Familienroman, eine deutsche Großvater-Vater-Sohn-Geschichte, in der demzufolge die Frauen die Rollen spielen, die ihnen der gesellschaftlich-patriarchale Zeitgeist zwischen 1914 und dem Beginn der 1980er Jahre zugesteht? Eine Geschichte, die dann auch noch in Bayern spielt und autobiografisch geprägt ist?
Da windet man sich zunächst ein wenig und das wohl zu recht. Dann aber kommt alles ganz anders, denn Mittelreich ist zwar ein „Heimatroman“, aber einer im besten Sinne. Schon auf den ersten Seiten dreht sich einem leise der Magen um, die ersten Fluchtreflexe setzen ein, es schwindet auch dem Leser und der Leserin die Hoffnung, dass es aus dem Geflecht aus gottergebener Dumpfheit, kriegslüsterner Gier, sowie allen Nuancen sexualisierter und sexueller Macht irgendein Entrinnen geben könnte. Tief wird man in die Abgründe der deutschen Seeligkeit angesichts der weltkrieglichen Vernichtungszüge hineingezogen – auch diese ummäntelt mit dem Heiligenschein des Familienlebens und einzig mit der Bedrohung konfrontiert, dass der eine oder andere Nachwuchs-Ernährer nicht mehr im Ganzen an die Stätte der Vorfahren zurückkehren kann, um seine Position im Reproduktionszyklus einzunehmen.
Wenn auch nicht neu, ist doch die grausigste Erkenntnis, dass einem all das bekannt vorkommt. Über „Hundert Jahre Deutschland“ erzähle Bierbichler, schreibt der Verlag und untertreibt damit ein gutes Stück, denn hundert Jahre ein Deutschland klingt nach weniger als hundert Jahre all die Menschen, die dieses Land zu dem gemacht haben, was es ist.
Bierbichler schreibt über Menschen, Ereignisse und Entwicklungen, die ohne Weiteres auf andere Regionen dieses Landes übertragbar sind, sei es im weit Zurückliegenden oder erst kürzlich Vergangenem. Und doch liegt hier in düsteren Details auf 400 Seiten eine psychologische Landkarte aufgeblättert, die es schafft, einem auch dann einen Schauder über den Rücken zu jagen, wenn einem das „Nachdenken über Deutschland“ leichter fällt als dem Großteil seiner EinwohnerInnen und auch leichter als 99 Prozent der ProtagonistInnen aus Bierbichlers Roman. Bei denen wird zwar auch häufig die Stirn gerunzelt, aber kein Zweifel kann je erschüttern, was doch nun mal die deutsche Wahrheit ist: „Fremde“ schaden der „Heimat“, menschliche Verwerfungen behandelt man im Beichtstuhl oder indem man einfach die Augen schließt, Arbeit und Familie sind das höchste Gut, der Rest ist Kommunismus, nein halt, Bolschewismus. Wenn ZwangsarbeiterInnen, und ehemalige KZ-Häftlinge in die Idylle einbrechen, verdüstert sich schon mal der geistige Horizont, aber man wird doch wohl noch „Führer“ sagen dürfen, bittschön? Wenn der Denkprozess doch einmal einsetzt, kann es schon mal passieren, dass jemand vor Erkenntnis-Schreck glatt hinwegstirbt.
Finger auf der Landkarte
Familiär gezwungen reiste ich im Alter zwischen 12 und 18 Jahren mehrmals im Kalenderjahr in eine bayerische Landschaft, die der von Joseph Bierbichler in Mittelreich Beschriebenen zum Verwechseln ähnlich war. Der für dieses Alter typische und auch in mir aufflackernde adoleszente Zorn entlud sich interessanterweise nicht in der ostdeutschen Großstadt-Umgebung meines sonstigen Teenagerlebens, sondern fast ausnahmslos im Zusammenhang mit den Aufenthalten in dieser Umgebung. Er entstand, so realisiere ich im Nachhinein und mit der Lektüre von Bierbichlers Roman, auch aus einer Angst heraus, die ich bis dahin nicht gekannt hatte. Eine Angst, die sich speiste aus dem unheimlichen Gefühl, ständig und noch dazu mißtrauisch beobachtet zu werden und vor allem dem Eindruck, in eine fadenscheinige und zugleich feindliche Umgebung verpflanzt worden zu sein, die mit diesen ihren Wesenzügen keinesfalls hinter dem Berg hielt. Sie offenbarte sich zwar nicht in unmittelbaren Attacken, aber der subtile und zersetzende Angriff auf mein sich zu diesem Zeitpunkt zart konstruierendes Subjektgebäude fand unverhohlenen Ausdruck in einer offenen Abneigung gegenüber dem Umstand, mit mir, dem „Fremdling“, in Kontakt zu treten. Weiterhin geschah dort alles, was ich wahrnahm, frei von positiven Regungen – mit einer mir bis dahin unbekannten menschlichen Kälte wurden alltägliche Dinge wie Kirchgang und -chor, das jeweilige Einzelhandelsunternehmen, die Bankgeschäfte, der Erhalt des Hofes und vor allem die ländliche Politik erledigt. Ob das Hobby nun die freiwillige Feuerwehr oder die regelmäßige weitläufige Wanderunternehmung war – alles verband sich mit blutiger Schlachteplatte, Saufgelagen und unverständlicher Mundart, mir vollkommen anders grob an den Kopf gehackt als der ländliche Ton, den ich aus der mir bekannten Peripherie gewohnt war. Im politischen Alltagstheater im Osten der Neunziger Jahre brannten Asylbewerberheime und wurden die Menschen sichtlich bekloppter. Hier „unten“ aber hatte alles seinen Platz, nichts wurde gerückt oder verrückt und oben auf dem Hügel brannte in einer Grotte ewig eine Kerze. Beides war bedrohlich, nur: Das Eine war bekannt, das Andere unbekannt.
Vielleicht habe ich in der Romanfigur der alten Mare, die als Dienstmagd und ad-familiäres Kontinuum auf dem Hof der Seewirtschaft lebt, bis sie anläßlich der ersten Fernsehübertragung einer Papsternennung vor Rührung verstirbt, die alte Bäuerin wiedererkannt, die mir über mehrere Jahre während meiner Besuche immer wieder frische Milch aushändigte, die ich zu holen beauftragt worden war. Sie sprach, bis auf: „Eine Mark.“, nicht mit mir – und man sprach im Dorf auch nicht mit ihr, stellte ich bald fest. Ich war es nicht gewohnt, dass man in der Familie in mehreren Generationen zusammenlebt und verstand nicht, dass man dabei dennoch nicht miteinander redete und wahrscheinlich konnte sie sich partout keinen Begriff davon machen, wie ich eigentlich in die Situation geraten war, in der sich unsere Wege kreuzten und auch wieder verloren – es war kurz bevor sie starb, wie ich dann, irgendwann endgültig in die Ferne zurückgekehrt und wild entschlossen, niemals wiederzukommen, erfuhr. Lange nach der Zeit, die Bierbichler beschreibt, erkenne ich nun wieder, was ich vor 15 Jahren nicht hätte beschreiben können: In Bayerns Landschaften regieren Kirche, Tod und die CSU und der Rest sind hohe Berge, von denen Stürme herunterbrechen, die über die Seen hinweg- und Dächer von den Häusern fegen. Wer versucht, diesem hoheitlichen Triangel zu entfliehen, der mit dem Wort „Heimat“ auf Topflappen gestickt, in Holzbrettchen an die Wand genagelt und abends beim Zubettgehen auf die Bettdecke geworfen wird, der wird sich wundern, in welchem festen Griff ihn dieser hält und dass der Hass darauf sich nur gegen einen selbst richten darf – und damit eigentlich dem Tod gleichkommt.
Joseph Bierbichler, Mittelreich, Suhrkamp, 392 Seiten, 22,90 Euro