Boualem Sansal hat für Das Dorf des Deutschen im Oktober 2011 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen bekommen und damit endgültig auch im deutschsprachigen Raum den Ruf erlangt, den er im französischsprachigen längst inne hat: Einer der sozialkritischsten, radikalsten Literaten dieser Zeit zu sein. Ein Autor, dem man seine Glaubwürdigkeit als algerischer Exil-Schriftsteller allein schon deshalb nicht streitig machen mag, weil nur die persönliche Erfahrung so zutiefst verstörende und gleichzeitig sarkastische Schilderungen hervorbringen kann, wie diejenigen Sansal über die politische und soziale Situation in Algerien, über die Kraft islamistischen Fundamentalismus‘ in Nordafrika und in den westeuropäischen Metropolen, an deren Rändern aus Zentren sozial-ökonomischer Diaspora Versuchsanstalten religiöser Fanatiker_innen werden. Trotz der präzisen politischen Perspektive mag man bei Sansal, der erst im Alter von 50 Jahren begonnen hat, literarische Texte zu verfassen, nicht unbedingt das strategische Kalkül entdecken, dass ihm Kritiker_innen gelegentlich unterstellen. Das hängt vor allem mit seiner Sprache zusammen. Sansals Sprache ist keine, die im jahrzehntelangen literarischen Prozess gereift ist. Sie ist kein wohldosiertes Instrument in einem sich stetig konstituierenden Textkorpus, sondern drängt heraus, will ungestüm aus dem Dunkel der gründlichen und dennoch unsortierten Archivierung nach oben ans Licht des Lesbaren. Sie will deutlich machen, dass auf keinen Fall etwas vergessen werden darf und kann deshalb schon auf den ersten Seiten Schlimmstes benennen – ohne dass es deshalb im Folgenden sanfter werden würde. Deshalb: Keine Ruhe, keine Pause, keine Schönheit, nur blanker Realismus, der sich dennoch auf trunkene Art an den Lesenden festkrallt.
Sansal beschreibt eine langsame und zermürbende psychologische Transformation zweier algerischer Brüder, die mit der Vergangenheit ihres deutschen Vaters konfrontiert werden und dabei ihre Subjektpositionen vollkommen in Frage stellen werden.
Bereits beim Lesen von Das Dorf des Deutschen will eine Frage einfach nicht wieder verschwinden: Warum hat nie ein Deutscher oder eine Deutsche ein Buch geschrieben, in dem sich diese abgrundtiefe Verzweiflung erlaubt wird, diese hilflose Wut, diese Selbstzerstörung angesichts der Verstricktheit der eigenen Familie in die nationalsozialistische Ideologie- und Verbrechensmaschinerie? Warum brauchte es die fiktive familiäre Konstruktion, die sich von der Mehrheit der deutschen Familiengeschichten schier unvorstellbar unterscheidet, um den Prozess einer Aufarbeitung zu erzählen, wie er radikaler nicht sein kann? Hat es diese Verzweiflung, diese Wut, diese Selbstzerstörung in Deutschland nicht gegeben?
Die Antwort lautet bekanntermaßen in fast 100 Prozent aller Fälle: Nein, hat es nicht.
Sansal legt seinen zwei jungen Protagonisten, die in den Pariser Banlieus leben, die Fragen und Schockzustände angesichts der Entdeckung der verbrecherischen Vergangenheit des Vaters so nahe, dass einem auch klar werden muss, warum es das in Deutschland nach 1945 nicht gegeben haben konnte: Die Macht der Väter war ungebrochen – unerheblich, ob sie nun bei den Vernichtungsfeldzügen gefallen oder erst nach einigen Jahren aus alliierter Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt waren – in diesen Fällen übernahmen es Familien, Schulen, der Staat, die Kinder im Sinne der Väter zu erziehen.
Wäre das Leben der meisten jungen Deutschen nach 1945 ohne direkte oder vermittelte väterliche Übermacht verlaufen – so wie das Leben der Brüder Malrich und Rachel Schiller, diese postfaschistische Republik wäre ein Land voller wahnsinniger Täterkinder geworden. Der Vater in Das Dorf des Deutschen, Hans Schiller, tritt aus dem Leben der Brüder, als diese noch jung sind. Erst verlässt der ältere Rachel das Land, in dem sie aufwachsen Richtung Frankreich, einige Jahre später folgt der jüngere Malrich. Sie verlassen ein algerisches Dorf, in dem sie als Rashid Michael (Rachel) und Malek Ulrich (Malrich) als die Kinder eines deutschen Vaters und einer algerischen Mutter groß geworden sind.
Sie verlassen das dörfliche Leben zwischen einfacher Viehwirtschaft und subsistenziellem Handwerk und werden Teil vom Mikrokosmos einer Millionengemeinde am Rande von Paris, wo in den seit ihrer Erbauung vor sich hin bröckelnden Hochhäusern Menschen leben, die der französische Staat und seine Metropole genau dorthin auch platziert haben. Die Stadt in der Stadt, la cité, gehört den Einwanderer_innen aus allen möglichen Ländern und ihren in Frankreich geborenen Kindern und Enkelkindern. Hierher kommen Rachel und Malrich, um bei Onkel und Tante erwachsen zu werden. Rachel, der Ältere, wird die Trabantenstadt, so schnell er kann verlassen, er rückt näher an das „wahre“ Frankreich mit den sauberen Vororten, Einfamilienpavillons, Garagen und Kleinfamilien, wird in einem multinationalen Konzern arbeiten, Geld verdienen, heiraten, auch wenn ihn seine Schwiegermutter für seine Herkunft verachtet.
Für seinen Bruder Malrich ist die cité kein Ort, den man wirklich verlassen könnte – es gibt nur dieses Leben mit Onkel und Tante, Freund_innen und Feind_innen und dem Beobachten vom Rest der Bewohner_innen, dem jugendlichen Aufbegehren gegen das Erstarken der islamistischen Sittenwächter, nachdem man für kurze Zeit selbst auf deren Anwerbeversuche reingefallen war, versprachen diese doch einen Subjektstatus, der einem sonst nur durch die Aufmerksamkeit von Polizeibeamt_innen zuteil werden konnte. Nicht mal der Tod der Eltern im Dorf in Algerien, grausam ermordet von islamistischen Fanatikern, bringt den sich adoleszent verweigernden Malrich augenscheinlich aus dem Gleichgewicht.
Die Brüder driften darüber auseinander – bis zu dem Tag, als Malrich vom Selbstmord Rachels erfährt. Rachel wird gefunden, nachdem er sich mit Auspuffgasen das Leben genommen hat, in eine an Sträflingskleidung erinnernde Montur gehüllt und mit geschorenen Haaren. Malrich erhält vier vollgeschriebene Tagebücher aus den letzten zwei Lebensjahren seines Bruders.
Als sei Langeweile eine Droge und die Ablenkung nur der Beweis für deren Tauglichkeit, beginnt Malrich zu lesen. Schlagartig fällt damit ein ihm bis dahin unbekanntes Entsetzen in sein Leben und beginnt sich kaleidoskopartig auszubreiten. Es ist dasselbe Entsetzen, wie es auch sein Bruder vor ihm durch eine mehrjährige Reise, die er erst mit seinem Suizid beendet, erfahren hat. Rachel nämlich kehrt nach der Ermordung der Eltern in das Dorf Äin Deb zurück. Was er neben einem in Angststarre und Zeitlosigkeit versunkenen Dorf vorfindet, sind die wenigen Hinterlassenschaften seiner Eltern, unter denen besonders ein Stück besondere Bedeutung zu haben scheint. Ein kleiner, alter Koffer mit deutschen Aufklebern und merkwürdigem Inhalt: Einem Soldbuch der SS, wenigen Papieren und einer Auswahl von Orden und Fotos seines Vaters, die dessen Beteiligung an der Vernichtung der europäischen Juden und Jüdinnen nicht nur beweist, sondern auch noch dessen Stolz, der ja im Aufbewahren von Erinnerungsstücken liegt, spiegelt. Rachel macht sich auf die Suche nach den Spuren seines Vaters aus der Zeit, bevor dieser nach Algerien kam und dort ein zurückhaltendes Leben führte. Auschwitz ist der letzte der Orte, an den er gelangt. Die Tagebücher über seine Reise veranlassen schließlich auch Malrich, mit dem Schreiben zu beginnen und die rückwärtslaufende Chronik seines in mehrfacher Hinsicht verlorenen Bruders Rachel fortzuführen. Über ihren weiteren Verlauf entscheidet nun nur noch Malrich allein.
Boualem Sansal: Das Dorf des Deutschen. Das Tagebuch der Brüder Schiller, Merlin Verlag, 280 Seiten, 15.80 Euro
geschrieben für drift