Mindestens 20.000 Menschen sind in den vergangenen 20 Jahren bei dem Versuch, das Mittelmeer zu überqueren, ums Leben gekommen – unterwegs in zumeist hochseeuntauglichen Booten, abgewehrt von politisch-militärischer Gewalt seitens der EU, die dabei kollaboriert mit Diktaturen und Regimen. Unbekannt bleibt in der Regel, wer diese Menschen waren, woher sie kamen, wer ihre Familienangehörigen sind und – warum sie sich auf den lebensgefährlichen Weg über das Meer gemacht haben. Der italienische Journalist Gabriele del Grande hat vor sieben Jahren begonnen, die Geschichten, Wege und Hintergründe dieser Menschen zu recherchieren und aufzuschreiben und begonnen, die Entwicklung der politischen Rahmenbedingungen der tödlichen Grenze Mittelmeer zu beobachten. Nach „Mamadous Fahrt in den Tod“ aus dem Jahr 2008, ist sein neues Buch zum Thema mit dem Titel „Das Meer zwischen uns“ erschienen. Bereits am 26. April war del Grande damit zu Gast in Berlin.
Ihram ist 33 und lebt in Marokko. Seine Freundin lebt in einer kleinen Stadt in Frankreich. Sie sprechen miteinander per Skype und chatten über Facebook. Nach zwei Jahren verloben sie sich – virtuell. Sie haben sich nie getroffen, weil Ihram keine Einreisegenehmigung bekommt. Er steigt schließlich auf ein Schlauchboot, dass ihn über das Mittelmeer zu seiner Liebe bringen soll. Aber er wird seine Verlobte niemals treffen.
„Ich möchte, dass die hinter mathematischen Größen verborgen bleibenden Toten des Mittelmeeres sichtbar und lebendig werden. Sie haben Namen, ihre Angehörigen haben Namen und diejenigen haben Namen, die nicht ertrunken, aber namenlos in den Abschiebegefängnissen Europas sitzen. Ihre Vergehen: Die Grenze zu überqueren. Alle reden über die Grenze und vergessen dabei diese Menschen. Es ist mir wichtig, dass sie ihre Namen zurückbekommen.“ So beginnt Gabriele del Grande seinen Vortrag in der Theaterkapelle in der Boxhagener Straße in Berlin Friedrichshain. Eingeladen vom Heinrich Böll Bildungswerk, von der taz und vom migrationspolitischem Netzwerk borderline europe sitzen neben ihm die Moderatorin Margret Geitner, die Übersetzerin Valeria Bruschi und der Schauspieler Björn von der Wellen, der, über den Abend verteilt, einzelne Passagen aus der deutschen Übersetzung von „Il mare di mezzo“ vorträgt. Sie bilden einprägsame Unterbrechungen in der treffsicher formulierten Analyse des europäischen Migrationsregimes, die Gabriele del Grande in den folgenden zwei Stunden vornehmen wird.
Gabriele del Grande ist keine 30 Jahre alt. Im Jahr 2005, da war er gerade 23 und junger Journalist kurz nach der Ausbildung, soll er einen Bericht über die Toten in der Meerenge von Sizilien schreiben. „Ich begann zu recherchieren und zu schreiben und geriet in den internationalen Onlinemedien immer größer werdende Kreise. Die Recherche wurde nie fertig. Ich konnte angesichts dessen, was ich herausfand, nicht mehr aufhören.“ Statt des Beitrags beginnt del Grande 2006 den Blog Fortresseurope, die im Grunde bestinformierteste Internetplattform zum Thema „Migration und Tod im Mittelmeerraum.“ Der Blog ist mittlerweile in 21 Sprachen übersetzt und wird etwa 2.000 mal am Tag aufgerufen 500.000 mal im Jahr. Rund 1.900 Posts wurden seit Januar 2006 veröffentlicht. Kurz nach dem Start von Fortresseurope bekommt del Grande einen Anruf vom Schweizer Fernsehen. Dort braucht man Kontakte zu Angehörigen von somalischen und eriträischen Migrant_innen, die in libyschen Gefängnissen sitzen und bittet ihn um seine Mithilfe. Del Grande hat diese Kontakte nicht – und sagt trotzdem zu. „Ich dachte, ich muss diese Chance einfach nutzen, damit das Thema die Öffentlichkeit erreicht.“ Der Journalist findet dann heraus, dass besonders somalische und eritreische Migrant_innen sehr politische Communities in Rom bilden, die gut informiert sind über das Geschehen jenseits des Mittelmeers. Sie werden später zu seinen besten Informant_innen.
So überwältigt wie er damals von dem Gegenstand gewesen zu sein scheint, wirkt del Grande heute nicht mehr. Dafür hat er zuviel gesehen, gehört und aufgeschrieben. In seinen Augen werden an den Grenze(n) Menschen zu den Objekten politischer Diskurse und verlieren im Zuge dessen ihren individuellen Subjektstatus. Del Grandes Analyse des Grenzregimes geht ganz offensichtlich weiter als die meisten, in der Regel sehr technisch-politischen, Einschätzungen. Er ist der Meinung, dass der politische Diskurs der Grenze den Menschen ausschließt, der sie überqueren will und nicht nur die politisch-militärische Macht der Grenze entscheidet, wer sie überquert und wer nicht. Diesem Diskurs ordnen sich seiner Ansicht nach auch die meisten Journalist_innen unter. Auch ohne offiziellen Druck würden sich seine Kolleg_innen von der italienischen Presse mit einer „Auto-Zensur“ belegen. Sie tragen damit, so del Grande, zu einem Journalismus bei, der heutzutage im allgemeinen kaum noch Informationen anbietet, aber stattdessen viel Kommunikation offeriert.
Gabriele del Grande ist im Januar 2011 nach Tunesien gefahren. Für ihn war mit dem Beginn der Rebellion in dem nordafrikanischen Land auch der Moment gekommen, in dem sich entscheidende Veränderungen im migrationspolitischen Kontext erwarten liessen. Was er in dem landesweiten gesellschaftlichen Aufbruch erlebte, irritierte ihn zunächst: Die meisten jungen Menschen, die er kennenlernte, wurden von der Umbruchssituation vor allem dahingehend beeinflusst, dass ihr Wunsch, das Land zu verlassen, eher bestärkt als geringer wurde. Hatte del Grande damit gerechnet, dass die grundlegenden Reformen Anlass sein könnten, die Hoffnungen und Träume der jungen Menschen wieder im Land selbst zu verankern, belehrten ihn die Jugendlichen eines besseren. Del Grande erzählt, wie er entdeckt, dass es in Tunesien eine ganze jugendliche Subkultur-Szene gibt, die sich mit Hip Hop-Songs, die die abenteuerliche Fahrt nach Lampedusa, Spanien und Italien und den Moment des Grenzübertritts ohne Papiere als Akt der Rebellion besingen, auf „das Abenteuer“ vorbereiten. Die Zahlen der Boote, die in den ersten Frühlingswochen 2011 die europäischen Küstengewässer erreichen, geben dieser Bewegung recht. Del Grande fährt daraufhin nach Lampedusa und findet direkt Bestätigung: „Die meisten Jugendlichen, die dort auf ihrem Weg nach Italien gelandet waren, sagten mir, dass die Rebellion ihnen letztlich den Mut gegeben habe, diesen Aufbruch auch wirklich zu wagen.“
Wer verkennt, dass hinter den selbstorganisierten Aufbrüchen Träume und Wünsche stehen, die für die meisten Menschen in Europa vollkommen gewöhnlicher Alltag sind, verkennt ein Aufbegehren gegen die Verweigerung von Einreise und Papiere und erkennt nicht, dass es sich dabei um eine sehr deutliche, wenn nicht die deutlichste Form der Rebellion gegen diese Grenze handelt, sagt del Grande: „Es ist ein Zeichen eines Wissens – ein Wissen darum, dass Reisen Normalität ist.“
Die EU antwortet militärisch. Die kriegerischen und politischen Allianzen, die im Abwehrkampf gegen Migrant_innen eingegangen wurden und werden, sind bekannt. Als Björn von der Wellen jedoch die Geschichte liest, die die aus Somalia kommende Mona del Grande heimlich am Telefon erzählt, während sie in einem Gefängnis im libyschen Tripolis sitzt, wird noch einmal deutlich, wie unmittelbar sich die Kooperationen im Grenzregime der EU organisieren. Geflohen auf einem Boot aus Libyen, werden Ende August 2010 etwa 80 Somalier_innen, unter ihnen del Grands Informantin, auf dem Meer von italienischer Küstenpolizei aufgebracht. Sie werden zurück in libysche Gewässer gefahren. Ein von den Italiener_innen gerufenes libysches Militärboot soll die Flüchtenden an Bord nehmen und nach Tripolis zurückbringen. Als sich die Menschen in panischer Angst weigern, das libysche Boot zu betreten, werden sie kurzerhand von der italienischen Küstenwache im Hafen von Tripolis abgesetzt – und direkt ins Gefängnis gebracht.
Solche und andere, ähnliche, Geschichten überqueren das Mittelmeer müheloser als die Menschen, die sie erleben – mit Handytelefonaten und über Facebook-Kontakte sind die Communities auf dem europäischen Festland informiert, was ihren Landsleuten im Mittelmeerraum geschieht. Eine Öffentlichkeit erreichen diese Geschichten mit wenigen Ausnahmen so gut wie nie. In Italien, so del Grande, befassen sich zwar mittlerweile mehrere seiner Kolleg_innen mit dem Thema, generell bleibt es in den europäischen Medien aber dabei: Wenn es überhaupt Meldungen gibt, sind sie eher unscheinbar. Mindestens 48.000 Menschen sind allein 2011 über das Mittelmeer aufgebrochen, mindestens 2.000 von ihnen der tödlichen Grenzpolitik zum Opfer gefallen. Ausschließlich wirtschaftspolitische Aspekte beeinflussen die Entscheidung, wer als „nützlich“ in die EU hereingelassen und nach Ablauf des „Bedarfs“ wieder fortgeschickt wird – deshalb sitzen Menschen in europäischen Gefängnissen, weil sie das „Verbrechen“ begangen haben, eine Grenze zu überqueren und deshalb werden Menschen werden in Europa als Arbeitsmigrant_innen ausgebeutet.
Und dennoch – folgt man migrationspolitischen Netzwerken -, ist Bewegungsfreiheit längst eine Tatsache. Dass die Angst vor den Menschen aus dem Süden weiter geschürt wird, sei ein Zeichen für die Einsicht in die Unkontrollierbarkeit dieser Menschen, sagt del Grande. Die „Kultur der Zurückweisung und Repression“, wie er es nennt, muss auf Seiten der EU immer wieder neu manifestiert werden. Die EU stemmt sich damit gegen eine Realität, die mittlerweile auch auf dem juristischen Weg eingefordert wird. Ein sehr deutliches Zeichen setzte das Urteil, dass der Europäische Menschengerichtshof (EGMR) am 23. Februar diesen Jahres gegen Italien fällte. Italien hat laut diesem Urteil gegen den Artikel 3 EMRK (Verbot der Folter und unmenschlicher und erniedrigender Behandlung) verstossen. Geklagt hatten 11 Personen aus Somalia und 13 aus Eritrea. Ihnen widerfuhr 2009 ähnliches wie den Menschen im August 2010, über deren Fall del Grande berichtet (siehe oben). Sie waren zusammen in einer Gruppe von 231 Personen von Libyen aus mit drei Booten Richtung Italien unterwegs. Am 6. Mai 2009 wurden sie 35 Meilen südlich von Lampedusa von Booten der italienischen Küstenwache abgefangen, auf Schiffe des italienischen Militärs verbracht und nach Tripolis zurückgefahren. Dort wurden sie, ohne Aufklärung darüber, was mit ihnen geschehe und ohne dass ihre Identität überprüft wurde, den libyschen Behörden übergeben.
Dieser Vorgang fand auf der Grundlage eines Rückkehrabkommens zwischen Italien und Libyen statt, dass am 4. Februar 2009 in Kraft getreten war. Zwar erklärte der italienische Verteidigungsminister am 26. Februar 2011 das Abkommen aufgrund der Ereignisse in Libyen für suspendiert, aber nur kurze Zeit nach dem Tod des ehemaligen Machthabers Muammar al-Gaddafis nahm Italien Verhandlungen mit dem libyschen Übergangsrat auf, um ein erneutes Inkrafttreten zu forcieren.
Gabriele del Grande geht davon aus, dass die EU ihr Grenzregime bis auf weiteres aufrechterhalten wird. Es liegt also an der politischen Öffentlichkeit, die tödliche Logik des Migrationsregimes aufzudecken und die Realität der grenzenüberschreitenden Bewegungsfreiheit solidarisch zu unterstützen und auszuweiten. Die siebzehn Mitglieder der Grossen Kammer des EGMR entschieden im Februar 2012 einstimmig, dass Italien Flüchtlinge an einen Staat auslieferte, in dem ihnen unmenschliche Behandlung drohte. Es habe sich damit um eine rechtswidrige Ausweisung handelte. Von verschiedenen Seiten war danach zu hören, dass es sich in dem Fall „Hirsi Jamaa und andere gegen Italien“ um ein wegweisendes Urteil für die Asylpolitik handelt. Ob demnächst Frontex, die NATO und weitere EU-Mitgliedsländer auf der Anklagebank sitzen? Für Gabriele del Grande sind es vor allem die sich nach den Aufständen des letzten Jahres politisch neu strukturierenden Mittelmeerländer, die beginnen müssen, der EU Druck zu machen. Aber dafür müssten die progressiven Kräfte mit einem Fokus auf Bewegungsfreiheit dort auch weiter wachsen. Wieviele Tausend Menschen werden bis dahin ihr Leben an den EU-Grenzen noch verlieren?