In Berlin dekonstruierte der Stadtsoziologe und Gentrifizierungskritiker Andrej Holm kürzlich bei einer Veranstaltung den Mythos der „Sozialen Mischung“. Der Begriff geistert seit etwa fünf, sechs Jahren verstärkt als Leitbild durch die Berliner Debatten um sozialen Wohnungsbau, Stadterneuerung und Aufwertungsprozesse. Holm stellte dabei die Verbindung zu sehr frühen stadtplanerischen und stadtpolitischen Maßnahme-Katalogen her. Bereits vor über hundert Jahren habe man versucht, mit Begriffen wie „Versittlichung“ und „Durchmischung“ gegen die Elendsviertel der schnell wachsenden Städte in Europa vorzugehen. Dabei sei es allerdings weniger um die Beseitigung sozialer Ungerechtigkeiten gegangen, sondern vielmehr um die Domestizierung der zunehmend aufmüpfigen Arbeiterschaft, die diese Viertel während der Zeit der Industrialisierung fast ausschließlich bewohnte. Aufwertungsinteressen verbargen sich damals, ähnlich wie heute, hinter Wort-Vehikeln wie dem der „Sozialen Mischung“ oder dem der „Verbesserung unausgewogener Sozialstrukturen“. Bislang konnte noch kein einziger empirischer Beweis erbracht werden, dass die angeblichen Verbesserungen für die Bevölkerung der betroffenen Viertel auch tatsächlich eingetreten sind.
Die englische Mittelschicht erfindet sich mit dem Proll das Objekt ihrer Verachtung
Demgegenüber zeigte die Geografin Ruth Glass schon 1964 an der Stadtentwicklung von London, wie durch Sanierung ganz explizit Arbeiterviertel zerstört und eine proletarische Stadtteilkultur verdrängt wird. Das ganze Ausmaß dieses bereits in den 1960er Jahren zu beobachtenden Prozesses nimmt im heutigen Großbritannien gewaltige machtpolitische Formationen an. Eine, mit gezielter Verdrängung, Verachtung und Diskriminierung einhergehende Stigmatisierung der englischen Arbeiterschaft hat in den vergangenen Jahrzehnten dazu geführt, dass das einstmals von einer breiten proletarischen Identität zusammengehaltene Industrieland nunmehr auf den Trümmern einer von breitem Selbst- und Klassenhass gespaltenen Gesellschaft steht. Zu dieser Analyse kam bereits der junge englische Historiker und Journalist Owen Jones mit seinem Buch Prolls. Die Dämonisierung der Arbeiterklasse. Dieses liegt nun bereits in einer zweiten, überarbeiteten Ausgabe vor. Jones stellt mithilfe von überwältigend dichter Empirie dar, wie der propagandistische Entwurf einer angeblich breiten englischen Mittelschicht den Konservativen in ihrem Klassenkampf als Abgrenzungsmodell dient. Begriffe wie „Anstand“ und „Sozialbetrug“ werden, so Jones, populistisch eingesetzt, um die, in den Stadtrand- und Vorortghettos der ehemaligen englischen Industriestädte im existenziellen Ausnahmezustand lebende, englische Unterschicht auseinander zu dividieren. Die konservative Propaganda teilt die Menschen dabei in zwei Gruppen ein. Da sei zum Einen besagte aufstrebende Mittelschicht, die beweise, dass die kapitalistische Wertorientierung Menschen auf den Weg ökonomischen und sozialen Aufstiegs verhelfen kann. Ihr gegenüber stehe eine vollkommen verwahrloste, „arbeitsferne“, sozial und ökonomisch absolut wertlose und degenerierte Gruppe von Versagern – die chavs, das englische Wort für Prolls. Jones entlarvt diese Einteilung als ideologisches Phantasma. Das ändert allerdings nichts an den verheerenden Folgen für die davon betroffene arme englische Bevölkerung.
Deren Diskriminierung als dumm, faul und unmoralisch diene, so Jones, einzig dem Aufrechterhalten einer als Normalzustand angesehenen Ungleichheit. Sie soll darüber hinwegtäuschen, dass der neoliberale Ausverkauf von englischen Industrie- und Bergbau-Standorten unter den Regierungen Thatcher, Blair und mittlerweile Cameron die Verantwortung dafür trägt, dass Millionen von Menschen ihre Arbeitsplätze sowie ihre Existenzgrundlage verloren haben, ihre Würde und ihre Geschichte abgesprochen bekommen und dafür zudem verspottet werden.
Der massive ideologische Angriff auf die in der englischen Arbeiterbewegung einst besonders starke Solidarität und Gemeinschaftsorientierung hat zur Folge, dass sich der dabei transportierte Klassenhass nicht selten auch in den Arbeitervierteln beziehungsweise ehemaligen Arbeitervierteln vollzieht. Niemand wolle sich schließlich „antisoziales Verhalten“ anheften lassen. Eine soziale und ökonomische Kontextualisierung von diesem „antisozialem Verhalten“, so Jones, bleibt allerdings aus. Stattdessen breite sich die soziale und politische Hetze auch deshalb immer weiter ungebremst aus, weil der mediale Rückhalt für Stigmatisierung in den englischen Medien besonders groß ist. Journalisten und Politiker, gleich welcher politischen Richtung, gehören fast ausnahmslos der englischen Oberschicht an – und sind somit in der Regel vollkommen frei von einem Verständnis für die Nöte und Probleme der armen Bevölkerung. Wenn man keine Kontakte zu von Ausgrenzung Betroffenen hat, fällt es sicherlich leichter, sich an der sich gut verkaufenden Dynamik der Abwertung zu beteiligen.
Die Aufstände im August 2011 markierten darin den vorläufigen Höhepunkt. Begleitet vom medial vielfach reproduzierten „Kehrt den Abschaum von den Strassen!“ ging die Regierung unter Zuhilfenahme drakonischer Strafen repressiv und gewaltvoll gegen Zehntausende Menschen, gleich, welchen Alters, Hautfarbe, Geschlechts vor. Der politische und widerständige Ausdruck der Riots vor dem Hintergrund von alltäglicher Erniedrigung und allgemeiner Chancenlosigkeit blieb unbenannt.
Der ehemalige parlamentarische Gewerkschaftsassistent Jones wird hier besonders deutlich in Richtung der englischen Linken: weder Gewerkschaften noch Labour-Politiker steuern der politischen und medialen Treibjagd entgegen. Jones‘, in all ihren Details sehr lohnenswerte, Analyse macht sich abschließend stark für eine übergreifende Unterstützung dieses Aufbegehrens. Gewerkschaften, soziale Bewegungen und linke Parteien, müssten dabei allerdings nicht nur ihre eigene, von Zerrissenheit geprägte Selbstmarginalisierung überwinden, sondern auch ihre Abkehr von der „Arbeiterklasse“. Dann gelänge es vielleicht diese zu repolitisieren und sich stark zu machen – für die Menschen in Großbritannien, die einmal der starke Arm der Arbeiterbewegung und auch der Rückhalt linker Politik waren – bevor sie von dieser fallen und auf der Strecke gelassen wurden.
Zurückkommend auf den bundesdeutschen Kontext, lohnt sich der Gedanke der Übertragbarkeit von Jones‘ Untersuchung – industrieller Ausverkauf, Primat des ökonomischen Aufstiegs, linke Abkehr von der Idee der Arbeiterklasse oder sozialpolitische Chimären („Integrationsdefizite“, „Ausländerkriminalität“ und „Parallelgesellschaft“) haben schließlich auch hier hohe Konjunktur.
Owen Jones, Prolls. Die Dämonisierung der Arbeiterklasse., VAT, 2. Auflage, 2012, 320 Seiten, 18,90 Euro
geschrieben für drift