Bescheidenheit und Respekt sind Worte, die selten im Zusammenhang mit Journalismus fallen. Die erfahrene Journalistin Charlotte Wiedemann hat sie während der vergangenen dreissig Jahren zu den Prämissen ihrer Tätigkeit erklärt und darüber hinaus versucht, ihre Idee von journalistischer Freiheit und Unabhängigkeit zu bewahren – zurückhaltend und nicht ohne Zweifel, aber dennoch unbeirrt. Nun hat sie ein Buch darüber geschrieben, wie es ist, im politischen Journalismus entfernt der üblichen „geistigen Marschkolonnen“ unterwegs zu sein. Vom Versuch nicht weiß zu schreiben ist weder ein Fachbuch für Journalist*innen, noch eines, dass sich den langweiligen Vorwurf machen lassen müsste, einer politischen Korrektheit das Wort zu reden – abgesehen davon, dass politische Korrektheit weiterhin in erster Linie eine konservative Erfindung bleibt, die dahinter vor allem ein linkes Bestrafungsszenario angesichts „falscher“ Sprachverwendung ausgemacht haben will.
Das Buch ist aber vor allem eines nicht: Ein weiterer Versuch einer Journalist*in, von der Seite der Autorin auf die Seite der Schriftsteller*in zu wechseln, wie es in den vergangenen Jahren immer häufiger vorkommt. Während sich manche politische Autor*innen(1) – mitunter auch als literarisches Ärgernis – plötzlich in der Romanwelt tummeln, um dort ausführlich schwadronieren zu können, schreibt Charlotte Wiedemann schon seit langer Zeit vor allem essayistische Texte in Dossier-Länge. Fast alle stammen aus dem Fundus langjähriger Aufenthalte oder Recherchereisen in und nach Südostasien, Afrika und Arabien.
Wiedemann verwehrt sich gegen die häufig vorgenommene Trennung von Medien und Politik – ihr Buch ist vor allem ein scharfer Blick auf die gesellschaftlichen Wechselwirkungen von politischen Interessen und medialer (Re)Produktion. Am Beispiel vom Islam zeigt die politische Journalistin noch einmal präzise, wie Berichterstattung vollkommen multiple Realitäten reduzierend vereinfacht. Die Unfähigkeit, „den Plural zu denken“, so Wiedemann, kreiere ein geradezu absurdes Auseinanderklaffen von verobjektivierendem Diskurs und muslimischen Gesellschaften und den ihr lebenden Menschen. Der jahrhundertealten Enge des eurozentrischen Blicks sei so nicht beizukommen. Wer hier Pessimismus wittert, liegt dennoch falsch – denn die Handlungsorientierung spricht sowohl aus dem Schreiben Charlotte Wiedemanns selbst, als auch aus den Inhalten ihrer Reportagen, in denen sie immer wieder den Blick auf zivilgesellschaftliche Akteur*innen und Ereignisse lenkt, die Emanzipation und Veränderungsprozesse zum Ziel haben.
Vom Versuch nicht weiß zu schreiben liest sich mitunter wie eine von Wiedemanns Reportagen, bei denen beim Lesen schon mal der Wunsch aufkommen kann, sie mögen nicht gar so schnell enden, oder die den Eindruck hinterlassen, dass aus ihnen ohnehin mehr als ein oder zwei Zeitungsseiten hätten werden wollen. Manche der viele Jahre zurückliegenden Ereignisse oder Begegnungen, von denen Wiedemann im Buch berichtet, hatten dementsprechend ihren Weg nicht in die ihnen ursprünglich zugedachte Reportage gefunden, gelangen aber nun im Nachhinein zu besonderer Aufmerksamkeit. Sie stellen damit die Verbindung von weit zurückliegendem Erlebten mit aktuellen Erfahrungen und Schlussfolgerungen her. Sie machen das Schreiben Charlotte Wiedemanns zudem plausibel und integer. Hier schreibt keine Journalistin über ein frisch entdecktes „hot topic“, hier schreibt eine politische Autorin über Themen und Gedanken, die ihre Arbeit seit Jahrzehnten prägen, ohne deshalb als individuelle Ver- oder Bearbeitungssackgasse enden zu müssen.
In ihrer bewusst einbeziehenden Ansprache zeigt sich auch etwas von der journalistischen Kunst Wiedemanns: ihren Leser*innen etwas lange Verborgenes, fast schon geheimnisvoll Anmutendes mitteilen. Allerdings geht es der Journalistin dabei nicht um mystische Krämereien, sondern um nicht weniger, als darum, gekonnt und konsequent zu zeigen, wie steif und unverrückbar sich die Wahrheiten westlicher Denkachsen in fast alle journalistischen Gegenstände eingeschrieben haben. Es ist notwendig, an diesen Wahrheiten und Selbstüberzeugtheiten zu rütteln – und, um mit Charlotte Wiedemann zu sprechen – wenn es nur manchmal mit dem kleinen Wort „vielleicht“ ist.
(1) zum Beispiel Sophie Albers, Moritz von Uslar, Alexander Osang, ganz zu schweigen von Benjamin von Stuckrad-Barre, Florian Illies oder Max Dax…
Charlotte Wiedemann: Vom Versuch, nicht weiß zu schreiben. Oder: Wie Journalismus unser Weltbild prägt, PapyRossa 2012, 186 Seiten, 12.90 Euro
geschrieben für drift