Reportage in der Jungle World vom 11. Juli 2013:
Früher ein subkultureller Ort, wird das alternative Zentrum 1 000Fryd im dänischen Aalborg mittlerweile staatlich gefördert. Ein Grund dafür ist die Stadtpolitik, die aus der Kleinstadt im Jütland ein urbanes Zentrum machen will. Die »Gegenkultur« gehört auch dazu.
von Johannes Spohr
In Løkken ist nichts mehr los. Die Kleinstadt, die 50 Kilometer nördlich von Aalborg, der größten Stadt Jütlands, liegt, gibt ein eher tristes Bild ab. Die meisten Eisbuden sind geschlossen, die etwa 400 weißen Badehäuschen unbelegt und die Straßen fast menschenleer. Während eines Spaziergangs an der Jammerbucht kann man auf den Gedanken kommen, dass es hier im Sommer sicherlich ganz anders aussieht. Dann aber erinnert man sich, dass es längst Sommer ist. Der Laden mit dem roten Schild, auf dem die Aufschrift »Scandinavian Tattoo Art« steht, sieht nicht so aus, als würden dort regelmäßig Wikinger und Tribals gestochen. Der Putz fällt von den Wänden vieler Häuser, die den Weg zum Strand säumen. Ein paar aufgeschnappte deutsche Sprachfetzen sind die einzigen Hinweise darauf, dass sich hier Touristen aufhalten. Auf einer Mole sitzen zwei Angler, von hier aus erkennt man die Bunker aus dem Zweiten Weltkrieg neben dem malerischen Steilufer.
»Vor ein paar Jahren hat sich hier alles grundlegend geändert«, erzählt Anna, die seit ihrer Kindheit hierher kommt. »Früher war das hier eine Art dänischer Ballermann, und der Ort kam nie zu Ruhe.« Seit man sich entschlossen habe, dagegen vorzugehen, sei es eben etwas zu ruhig geworden.
Das früher eher beschauliche Aalborg macht einen ziemlich urbanen Eindruck. Auch hier ändert sich derzeit viel. Die einstige Industriestadt befindet sich im Umbruch und bemüht sich, zu einer jungen Metropole zu werden. Das angesagte Kopenhagen liegt etwa 400 Kilometer auf dem Landweg von hier entfernt. Für viele Menschen ist es inzwischen zu teuer geworden, und so entwickelt sich Aalborg mit seinen knapp über 120 000 Einwohnern zur attraktiven Alternative.
Die Industrien, die früher viele Menschen beschäftigt haben, sind seit langem verschwunden. Die Schiffswerft wie auch die Fabrik für Faserzement wurden bereits in den achtziger Jahren geschlossen. Einst befand sich hier eine der größten Betonfabriken Europas, heute arbeiten noch etwa 850 Menschen dort. Auch »De danske Spritfabrikker«, ein Hersteller von Schnaps und anderen Alkoholika, und eine Tabakfabrik haben die Produktion seit langem eingestellt. Die größten Arbeitgeber sind derzeit das Krankenhaus und die Universität. Letztere wurde, wie auch in Roskilde, Mitte der siebziger Jahre gegründet. Erst seit damals ist es in Dänemark möglich, an anderen Orten als Kopenhagen und Århus zu studieren. In den vergangenen Jahren hat die Universität Aalborg versucht, sich ein modernes Profil zu geben, indem sie neue Studiengänge wie »Kunst und Technologie« eingeführt und den Schwerpunkt auf technische Fächer gelegt hat. Diese Entwicklung hängt eng mit der Verlagerung der Wirtschaft von Schwerindustrie auf technische Industrien zusammen. Die Stadt wächst rapide und mit ihr die Universität. Viele Studenten aus aller Welt wohnen inzwischen hier.
In der Nähe des Limfjorden und des Hafens sind, neben neu angelegten, ufernahen Grünflächen mit vielen Menschen, die Kräne und Baufahrzeuge nicht zu übersehen. Neue, futuristisch erscheinende Wohnungen werden gebaut, alte Industrieanlagen werden zu Einkaufs- und Kulturzentren umgewandelt. Zu Fuß drei Minuten entfernt liegt das Kulturzentrum 1000Fryd in der Kattesundet. Nur zwei Straßen entfernt von der unter Touristen beliebten »Bar Street«, von einigen auch »die gewalttätigsten 100 Meter Dänemarks« genannt, geht es hier weitaus entspannter zu. Dass auch diese Straße von Umbauten und Bauarbeiten geprägt ist, bringt unseren Gastgeber Peter dazu, uns scherzend mit den Worten »Welcome to Belfast!« zu begrüßen. Später hören wir, dass die gegenüberliegende Fassade aufgrund der zahlreichen Graffiti und der maroden Bausubstanz »Little Berlin« genannt wird.
Das gelb gestrichene Haus, in dem sich das 1 000Fryd heute befindet, wurde 1982 von einem Kollektiv gekauft, das sich bereits in den siebziger Jahren gegründet hatte. Es war Teil einer linken rebellischen Jugendszene, die in der Stadt bereits seit längerem für die dauerhafte Einrichtung eines unabhängigen Zentrums stritt. Das Haus wurde zunächst umgebaut und renoviert und schließlich 1984 als Zentrum für alternative Kultur und Konzerte eröffnet. Der bis heute erhaltene Name klingt nach einer harmonischen Vergangenheit: Das Wortspiel kann sowohl mit »1 000 Gänseblümchen« also auch mit »1 000 Freude« übersetzt werden.
Heute befinden sich in dem Haus eine fast täglich geöffnete Bar, ein Infoladen mit Kino, ein Sportraum, Ateliers und Proberäume für Bands. Zu dem wöchentlich angebotenen Essen im Kerzenscheinambiente muss man sich anmelden.
Etwa 20 jungen Menschen stehen heute in der Schlange, um sich auf der Liste abhaken zu lassen, der Preis: 25 Kronen, etwa 3,50 Euro. Es gibt vegane Fish and Chips in Zeitungspapier, dazu eine aus Deutschland importierte Cola, die mit dem Attribut »Berlin« versehen wird. Später erfahren wir, dass hier alles, was irgendwie angesagt und hip ist, eben »Berlin« heißt. Nicht nur aus Kopenhagen, auch aus Aalborg kommen viele junge Menschen in ihrer Freizeit hierher.
Den kleinen Infoladen beschreibt Peter zu Recht als »etwas vollgerümpelt«. Das Interesse an politischen Informationen und Vernetzung an Ort und Stelle ist seit der Verbreitung von Internet und Social Media geschwunden. Das besonders hübsche Kino mit seinen etwa 30 Sitzplätzen soll neben den unregelmäßig stattfindenden Filmvorstellungen nun auch für kleinere Konzerte und Lesungen genutzt werden. »Nicht immer sind die Leute aufgeschlossen für neue Ideen, aber wir brauchen sie, um den Laden für uns und andere attraktiv zu halten«, sagt Peter, der mit einer weiteren Person im selbstverwalteten 1 000Fryd fest angestellt ist. Der 38jährige feiert bald das tausendste Konzert, das er für diesen Laden gebucht hat, und verbringt hier wohl mehr als 40 Stunden in der Woche. Er zählt seine Stunden längst nicht mehr. Die meisten arbeiten ehrenamtlich in den selbstverwalteten Strukturen, die durchaus professionell wirken.
Die Küche ist gut ausgestattet, die Bar bietet eine große Auswahl an Getränken, die Schlafräume für die Bands sind sauber und geräumig. »Sogar eine Waschmaschine und einen Trockner können tourende Bands nutzen«, betont Peter mit einer Mischung aus Stolz und Ironie.
Tatsächlich ist das 1 000Fryd bei Bands auf Europa-Tour für diesen Luxus bekannt. Nicht immer gibt es auf Do-it-yourself-Touren eine so angenehme Unterkunft, so gutes Essen und eine gute Bezahlung, die schon so mancher Band eine unter anderem durch Fähren und Brücken teure Skandinavien-Tour erleichtert hat. Auch Paddy, der hier vor einigen Jahren mit mehreren Bands gespielt hat, weiß das bis heute zu schätzen: »Der Laden liegt einfach strategisch gut für viele Bands und es war immer etwas Besonderes, hierher zu kommen.«
Wir bringen unsere Teller zurück in den Barraum, wo inzwischen eine gut besuchte Lesung mit queeren Aktivisten aus Kopenhagen begonnen hat. Die alten Poster an den Wänden im ersten Stock sind voller international bekannter Bandnamen, etwa Green Day und Die Toten Hosen. Es ist vor allem die Auswahl der Bands aus vielen Ländern, die das Besondere des 1 000Fryd ausmacht. »Nicht immer gibt es ein Publikum, das dies zu schätzen weiß«, sagt Peter und erinnert an ein Konzert von der aus San Diego stammenden Hardcore-Band The Locust vor einigen Jahren, zu dem weniger als zehn Personen kamen. In den meisten Städten wäre man froh gewesen, nicht vor der Tür stehen bleiben zu müssen. Auch professionellere Bands sollen hier ihren Platz haben, solange sie sich mit den Ideen des Ladens identifizieren können, sagt Peter. »Solange eine Band nicht mit einer Liste von Forderungen kommt und solange sie die Teller nach dem Essen selbst in die Küche zurückbringt, lieben wir es, ihnen all dies zu bieten – auch die Pfannkuchen als Überraschung zum Frühstück.«
In den Anfangsjahren kam das 1 000Fryd ohne jegliche finanzielle Förderung und Unterstützung aus. Ein Zustand, der Peter heute undenkbar erscheint. Seit den neunziger Jahren erhält das Zentrum Geld aus verschiedenen öffentlichen Quellen. Nur etwa 25 bis 30 Prozent der Einnahmen können durch Eintrittsgelder und die Bar gedeckt werden. Für diese gibt es eine offizielle Lizenz, und auch für das Abspielen von Musik wird Geld entrichtet.
Das 1 000Fryd hat sich so in den vergangenen 30 Jahren zu einem festen, gleichzeitig stets besonderen Bestandteil des kulturellen Lebens in Aalborg und Jütländ entwickelt. Als solcher wurde es von der Stadt und der Lokalpolitik immer wieder unterschiedlich beurteilt. Einen Tiefpunkt hatte das Ansehen des Ladens wohl um 2007 erreicht. Über mehrere Jahre kam es regelmäßig zu Angriffen rechter Hooligans, immer wieder wurden die Scheiben eingeschmissen. Ausgelöst wurde dies, so vermutet Peter, durch die Räumung des Jugendzentrums »Ungdomshuset« in Kopenhagen, zu dem das 1 000Fryd seit jeher gute Verbindungen unterhält. Viele Polizisten aus Jütland waren während der monatelangen Proteste in Kopenhagen im Einsatz. Nun habe man sich in Aalborg ein Ziel gesucht, das damit assoziiert wurde: »Auf einmal gab es ein klares Feindbild für die Hooligans, das ihnen nicht zuletzt die Berichterstattung in den Medien brachte.« Wenn die Polizei nach einem Angriff auftauchte, richtete sie sich gegen die Gäste des 1 000Fryds und beschützte teilweise die Hooligans. Zeitungs- und Fernsehberichte teilten diese Haltung, vor allem die entstandene Unruhe wurde als Problem angesehen. Der Laden wurde mehrfach durchsucht, fast hätte er seine Alkohollizenz verloren. Während eines Festivals 2007 kam es zu größeren Auseinandersetzungen mit der Polizei. Als herauskam, dass viele Polizisten aus Aalborg Mitglieder einer Facebook-Gruppe namens »Räumt das 1 000Fryd« waren und die Medien dies skandalisierten, hörten die Angriffe auf.
In den vergangenen Jahren hat die Stadt damit begonnen, das 1 000Fryd für sich zu entdecken und, so sagt Peter, »uns für das anzuerkennen, was wir ohnehin machen«. Derzeit bemühen sich die im 1 000Fryd Aktiven um eine Ausweitung der Förderung und sind dabei optimistisch. Schon jetzt wurden zusätzliche städtische Gelder zugesagt, die die Inflation der vergangenen Jahre ausgleichen sollen. Peter bekommt derzeit so viele freundliche Äußerungen zu hören wie schon lange nicht mehr. Er sieht einen deutlichen Zusammenhang mit der stadtpolitischen Entwicklung, zu der das 1 000Fryd auf einmal passe. Solange das Geld jedoch nicht mit Forderungen oder dem Versuch der Einflussnahme verbunden sei, könne er damit gut leben: »Es ist wichtig, dass wir nach wie vor zu 100 Prozent unabhängig von der Stadt sind. Die Förderung erhalten wir einfach für das, was wir sind, und für unser Musikprofil.«
Das 1 000Fryd hat in seiner Geschichte zahlreiche Spuren in der Stadt hinterlassen. In dem Roman »Nordkraft« des dänischen Autors Jakob Ejersbo ist es ein zentraler Ort, an dem die drogenaffinen Kinder der Achtundsechziger-Generation in den neunziger Jahren abhängen. Bei den Dreharbeiten für die 2005 erschienene Verfilmung sollte daher auch dort gedreht werden. Den Filmemachern sah das »echte« 1 000Fryd der Jahrtausendwende jedoch nicht finster und dreckig genug aus, und so wichen sie in eine andere Aalborger Kneipe aus. Die Zeiten ändern sich und mit ihnen das 1 000Fryd – wie auch die Vorstellungen, die sich andere davon machen.