Eine Rezension von Johannes Spohr, erschienen am 18.7.2013 auf www.rosalux.de
„Strecker? Nie gehört!“ Reinhard Strecker ist vielen kein Begriff, selbst nicht unter denjenigen, die sich intensiv mit der Geschichte des Nationalsozialismus auseinander setzen.
Dabei kann Strecker als einer der Pioniere der bundesdeutschen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus überhaupt gelten. Lange vor 1968, bereits Ende der 1950er Jahre, begann auf Initiative des damaligen Sprachwissenschaftsstudenten an der Freien Universität Berlin eine kleine Gruppe aus dem Umfeld des SDS damit, Materialien über NS-Täter zu sammeln. Unter anderem nach Polen führten Beteiligte ihre Recherchen, um Dokumente zu Unrechtsurteilen aus der NS-Zeit, zu finden die mitsamt den verantwortlichen Richtern und Staatsanwälten öffentlich gemacht wurden. Daraus entstand die Ausstellung „Ungesühnte Nazijustiz“. Auch wenn diese unter extrem schwierigen Umständen entstanden war und gezeigt wurde, hat sie beispielsweise für die Verjährungsdebatten im Bundestag und die Gründung der „Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen“ die wesentlichen Impulse gegeben.
Von Anfang an war Strecker juristischen Anfeindungen und sogar Drohungen ausgesetzt. Das ging so weit, dass er seine Kinder zu ihrer Sicherheit mehrfach ins Ausland bringen musste: „Sie lebten dann in einem Tal bei Oslo, man brauchte aber über einen Tag, um dahin zu kommen. Dort war die halbe Bevölkerung von der Wehrmacht massakriert worden, da kam niemand mit deutschem Akzent unbemerkt durch.“
Unter welchen Umständen Strecker und seine wenigen Mitstreiter_innen arbeiteten und welche existenziellen Konsequenzen diese Aktivitäten mit sich brachten, ist heute nur schwer vorstellbar. So wurde die Ausstellung auf politischen Druck hin per Kündigung aus der Karlsruher Stadthalle verbannt und musste dort in ein Altstadtlokal mit dem Namen „Krokodil“ umziehen.
Finanziell ließen sich die Projekte kaum bewerkstelligen, selbst die notwendigen Kopien kosteten damals große Summen. Strecker ist bis heute nicht schuldenfrei: „Ich habe immer noch die leise Hoffnung, das ich lange genug lebe, um diese auf anständige Art und Weise, wie ich finde, erworbenen Schulden nicht meinen Kindern zu vererben.“
Auch von den sonst sehr bewegten Student_innen erhielt Strecker kaum Rücklauf auf seine Bemühungen. Begeisterung für mühsame Karteikartenarbeit sei bei sehr wenigen aufgekommen: „Alle waren der Meinung, dass etwas getan werden müsste, aber sie fanden nicht, dass sie es tun müssten.“. Aber Strecker sieht sich selbst auch weniger als 68er denn vielmehr als „58er“. Er habe mit seinen Gruppen die Vorarbeit geleistet, die dann über die Studenten, teilweise bereits Professoren, weitere Kreise gezogen hätten – „Es war im besten Sinne nachhaltig“.
68 – eine aufgeklärte Generation?
Der Übergang von den 1950er zu den 1960er Jahren gilt allgemein als Zeit einer Wende im Umgang mit dem Nationalsozialismus – weg vom Verleugnen hin zu einer Auseinandersetzung und Strafverfolgung. Meist wird die in den späten 1960er Jahren ihren Höhepunkt erreichende Jugend- und Studentenbewegung mit dieser Wende assoziiert. Die jungen Menschen – so heißt es – hätten ihre Eltern mit einer bis dahin nicht gekannten Vehemenz mit ihrer Vergangenheit konfrontiert und diese Konfrontation zum Ausgangspunkt politischer Agitation gemacht.
Demgegenüber konstatieren einige Autor_innen, ihnen voran der SDS-Ex-Aktivist Götz Aly, das Gegenteil einer erfolgreichen Aufarbeitung durch die und ausgehend von der 1968er Generation. Seine These: Die Militanz des Straßenprotests und der daraus entstehenden bewaffneten Gruppen sei schlichtweg von der NS-Elterngeneration übernommen worden.
Die Mühe der Konkretion
Diese verschiedenen Narrative werden von den Autoren des Buches „Schärfe der Konkretion – Reinhard Strecker, 1968 und der Nationalsozialismus in der bundesdeutschen Historiografie“ aufgenommen. Ihr Anliegen ist es, das Verhältnis der 68er-Bewegung zum Nationalsozialismus kritisch zu beleuchten aber auch dem Narrativ der letztlich erfolgreich Aufarbeitung der NS-Vergangenheit zu widersprechen.
Ausgangspunkt dieses Vorhabens sind die Aktivitäten Reinhard Streckers. Die Herausgeber haben ihn 2011 interviewt und einen langen Ausschnitt dieses Gespräches als einleitenden Beitrag und gleichzeitig Fixpunkt für den Band gewählt. Es folgen ein Essay von Gottfried Oy zum Verhältnis der Neuen Linken zum Nationalsozialismus und von Christoph Schneider zum Kontext der „Aufarbeitung“ in der Bundesrepublik. Die Autoren, beide seit langem sowohl mit der Bewegungsgeschichte der 68er wie auch mit NS-Erinnerungspolitik befasst, verfolgen dass ehrgeizige Ziel, die Erinnerungen Streckers „nicht zum Fundus für Belegstellen zu degradieren“, sondern „ihren spezifischen Eigensinn zu bewahren“. „Ebenso wenig geht es darum, sich mit eigenen Positionen hinter einem als authentisch markierten Sprecher zu verstecken.“
Vor allem streben sie die bereits im Titel angedeutete „Schärfe der Konkretion“ an: Durch einen genaueren Blick auf einen Ausschnitt der vielfach und anderenorts zitierten Elemente früherer Auseinandersetzungen kann – so erhofft man sich – auch das tatsächliche Verhältnis der „68er“ zum Nationalsozialismus näher bestimmt werden.
Die Perspektive Streckers, der sich bereits in den 1950er Jahren gegen Antisemitismus engagierte, erscheint als grundlegend geeignet für den Blick auf die Nachkriegsjahre. Strecker selbst hat die nationalsozialistischen Verfolgung nur knapp überlebt und verließ Deutschland nach dem Krieg. Seine Themen sind bis heute vielfältig: Der Eichmannprozess, Globke, die bekennende Kirche, der Vietnamkrieg, sein Verhältnis zu Thomas Harlan gehören dazu. Strecker ist nach wie vor politisch sehr interessiert und aktiv, er spricht im Zuge dessen beispielweise über den Oury-Jalloh-Prozess.
Das Interview beginnt allerdings mit Streckers Rückkehr nach Deutschland 1954. Die Zeit des NS wird lediglich gestreift. Deutlich wird, dass er darüber nicht gern mit Menschen redet, denen nicht ähnliches widerfahren ist. Die Vermutung, dass seine biografischen Erfahrungen im und nach dem NS eine wichtige Rolle für seinen Wunsch zur Aufarbeitung spielen, liegt bei allem sehr nahe.
Antisemitismuskritik in den 1960er Jahren
Gottfried Oy skizziert in seinem Beitrag linke und studentische Ansätze der Auseinandersetzung mit dem NS ab den 1950er Jahren. Behandelt werden dabei nicht nur die Arbeitsschwerpunkte der unterschiedlichen Gruppen und Einzelpersonen, sondern auch ihre ideologische Entwicklung. Es geht schließlich nicht nur darum, womit sich beschäftigt wird, sondern auch wie. Die Ansätze kritischer Gesellschaftstheorie verloren nach und nach an Bedeutung. Zur Konkretion gehört hier auch, verschiedene Figuren und Ideen „auszugraben“, die viel zu schnell in Vergessenheit geraten sind. Hierzu gehört beispielsweise Margherita von Brentano, die sich auf der Grundlage der Kritischen Theorie – und gleichzeitig aus einer feministischen Perspektive – mit der Aufarbeitung des Nationalsozialismus beschäftigte. Die Mitorganisatorin der Tagung „Überwindung des Antisemitismus“ im Februar 1960, an der sich auch der SDS und die Deutsch-Israelische Studiengruppe (DIS) beteiligten, kritisierte bereits früh die Vernachlässigung des Antisemitismus und der Spezifik des Nationalsozialismus in der Studentenbewegung. Oy beschreibt, wie diese sich immer weiter von solchen Ansätzen entfernte und sich schließlich im neu aufkommenden Antiimperialismus positionierte. Der Antikommunismus wurde als Weiterführung des Antisemitismus der Elterngeneration gesehen, die Linken wurden zu den „Juden von heute“ verklärt. Der Schwerpunkt einer theoretischen Praxis wurde von einer „Handlungspraxis“ bzw. vom Aktionismus abgelöst. Insgesamt werden zwei Dinge deutlich: Die Aufarbeitung begann nicht 1968 und die Auseinandersetzungen waren größtenteils weder zahlreich noch gelungen.
Christoph Schneider spannt am Ende seines Beitrages den Bogen zur rassistischen Stimmung der frühen 1990er Jahre in der BRD und schließlich zum NSU, dessen Auffliegen zum Zeitpunkt des Verfassens des Buches erst kurze Zeit zurückliegt. Wirken die Schlussfolgerungen – vielleicht aufgrund der chaotischen Situation – recht unentschlossen und schwach, so weist er definitiv eine Analogie der 1950er Jahre mit der heutigen Situation auf: „die Kaltschnäuzigkeit gegenüber den Opfern“.
Wünschenswert sind weitere Untersuchungen mit ähnlichen Perspektiven. Es gibt mehr Menschen mit einer ähnlichen Geschichte wie der Reinhard Streckers.
Ein zentrales Feld, das im Buch fast komplett ausgespart wird, ist zudem das der innerfamiliären Auseinandersetzungen. Hier klafft eine weitere ganz entscheidende Lücke im Aufarbeitungs-Mythos.
Es ist verdienstvoll, dass die Autoren sich die Mühe machen, den aufwendigen und erkenntnisreichen Weg der Konkretion zu gehen. Sie zeigen damit, dass es Wege gibt, um sich jenseits von „68er-Bashing“ und der Reproduktion des Mythos‘ der über den NS aufklärenden Generation den tatsächlichen Formen von Auseinandersetzung zu nähern.
Oy, Gottfried; Schneider, Christoph: Die Schärfe der Konkretion. Reinhard Strecker, 1968 und der Nationalsozialismus in der bundesdeutschen Historiografie, erschienen im Mai 2013 im Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster (252 Seiten – 24,90 EUR).