393.373 Zeichen, 160 Seiten, 32 Beiträge: In der vierten Ausgabe der outside the box, in Leipzig erscheinende Zeitschrift für feministische Gesellschaftskritik zum Thema Arbeit steckt eine Menge derselben – mit großer Wahrscheinlichkeit wesentlich mehr, als sie auf den ersten Blick zu erkennen gibt.
Work, don’t cry // Cry, don’t work – ?
Überraschend und eindringlich ist die Arbeit-outside von der ersten Seite an: Selbst das Editorial ist keine freundliche Einladung an die Leserin im Stil redaktioneller Eingangsworte, die von einem intensiven und erfolgreich zu Ende gebrachten Entstehungsprozess zeugen und in denen der Brustton der Überzeugung darüber Auskunft gibt, dass hier ein gelungenes Stück Veröffentlichung aufgeschlagen wird. Stattdessen ist hier die Entscheidung für ein Zerrbild aus vierzehn verschiedenen Erklärungen aus der Redaktion bzw. ihrem Umfeld zum Thema Arbeit getroffen worden, vierzehn individuelle Mikroauseinandersetzungen vorab und damit deutliches Statement: Arbeit betrifft jede*n von uns zunächst einmal allein – und dass nicht nur gewaltig, sondern auch und zumindest so lange, bis und wie wir uns darin mitteilen und unsere Ängste und Kollisionen in der Überschneidungsmenge in ihren kollektiven, gesellschaftlichen UND patriarchalen Dimensionen erkennen, wie sie in den bestehenden kapitalistischen Verhältnissen ihre ungebremste und ausweglos erscheinende Dynamik entwickeln.
Das Kaleidoskop der Beiträge der outside the box seziert diese in ihren unterschiedlichen Formen und Wirkungen mit einer sanften Beharrlichkeit – nicht um Wahrheiten zu produzieren, aber um Aussagen zu treffen, die einen theoretischen, poetisch-politischen und persönlichen Nerv treffen.
What about feminism?
„Würde man den zeitgenössischen Darstellungsformen des Weiblichen glauben, so belaufen sich die aktuellen Errungenschaften einer Frau anscheinend auf den Besitz teurer Handtaschen, eines Vibrators, eines Jobs, eines Appartments und eines Mannes – vermutlich in dieser Reihenfolge. (…) Wie konnte es soweit kommen? Haben sich die Anliegen der Frauenbewegung des 20. Jahrhunderts in Form von Shopping-Paradiesen für ‚freche‘, selbstverliebte, schamrasierte Playboy-Häschen-Klone erfüllt? Dass der Höhepunkt angeblicher weiblicher Emanzipation so schnurgerade mit dem Konsumdenken zusammenläuft, stellt unserer politisch desolaten Zeit ein erbärmliches Zeugnis aus.“ (die britische Philosophin und Journalistin Nina Power in „Die eindimensionale Frau“)
Ob sich die Entwicklung von einer ökonomiekritischen, feministischen Bewegung zum Mainstream-Feminismus des 21. Jahrhunderts mithilfe verschiedener Ansätze feministischer Theorie abschließend (er)klären lässt, darüber ist sich der einleitende Beitrag von A. V. Schmidt nicht sicher – und erscheint dementsprechend als work in progress. Mit den „Überlegungen zu Arbeit, Natur und Geschlecht“ wird die Auseinandersetzung um einen materialistischen Feminismus fortgeführt – bereits die vergangenen outside-Ausgaben Emanzipation (#1), Form (#2) und Gebären (#3) haben die Reproduktion von Geschlechtscharakteren in Form konkreter Männern und Frauen zur Aufrechterhaltung des kapitalistischen Systems thematisiert. Beeindruckend in diesem Zusammenhang ist auch das Gespräch mit dem Psychoanalytiker, Satiriker und Kolumnisten Peter Schneider über Depression im Zusammenhang mit den Kategorien Arbeit und Geschlecht. Was bedeutet es für das gesellschaftskritische Potential der Psychoanalyse, wenn Depression neuerdings als „Volkskrankheit“ bezeichnet wird, Burn-out als logische Folgeerscheinung einer Tätigkeit in Pflegeberufen gilt und das allgemeine Dogma der Selbstoptimierung veränderte Subjektpositionen hervorbringt?
Überhaupt besteht ein Großteil der Texte aus Interviews und Gesprächen – mit Handwerkerinnen über ihre Erfahrungen in als „Männerberuf“ normierten Ausbildungen wie Zweiradmechanikerin oder Kfz-Mechatronikerin, mit Müttern der Redaktionsmitglieder über ihre Arbeitsbiographien im Zeitalter weltweiter Migration und Systemumstürzen, mit der deutsch-jüdischen Schriftstellerin und Politikerin Jutta Schwerin über ihr Leben oder mit der 87-jährigen Waltraud Schälike über die Zukunft des Kommunismus. Ohne die Theorie schmälern zu wollen: Dokumentierte Biographiearbeit – so auch Marco Malet in seinem Beitrag über die Gesprächsprotokolle der Schriftstellerin Gabriele Göttle, die sie von Interviews mit 26 Frauen angefertigt hat – ist keine mittelmäßige empirische Sozialforschung, die vor allem von Frauen für Frauen durchgeführt wird. Stattdessen begründet sich in der Wiedergabe von nicht erzählten und nicht gehörten Geschichten und deren Einordnung in ihre historischen, politischen und sozialen Kontexte, die Anerkennung von bislang Verweigertem. Sie ist ein Schlüssel, um sich Geschichte, Körper, Orte anzueignen, da wo die scheinbar undurchdringlichen Mauern der Verwertungslogik sich notwendiger Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung in den Weg stellen. Die graphische Gestaltung trägt in beeindruckender Weise dazu bei, eine bildpolitische Klammer um diesen Komplex zu legen.
Allein mit dieser Einsicht ist die outside the box#4 ein Geschenk, zudem und gerade, weil sie neben wertgeschätzten Zweifeln und Unsicherheiten kluge feministische Fragestellungen und Auseinandersetzungen beschert. Was kann sich eine politische Zeitschrift mehr wünschen als ihre Leser*innen zu berühren und nebenbei das Denken und Nachdenken auch mal ins Straucheln geraten zu lassen – ohne deshalb gleich den freien Fall zu provozieren oder anspruchsvolle Unterhaltung vor politisch einwandfreiem Hintergrund zu suggerieren, wenn die Zustände entweder zum Heulen oder eher zum Schreien sind?