Rezension: Der Film „Nach Wriezen“ begleitet drei junge Inhaftierte nach ihrer Entlassung – und neutralisiert die grausame Tat eines Neonazis
Erschienen am 4.9.2013 auf inforiot.de
Ein eigentlich ambitionierter filmischer Versuch, die Schwierigkeiten der Realität junger Menschen nach der Haft einzufangen, reproduziert stereotype Bilder über Ex-Inhaftierte, neutralisiert dabei gesellschaftliche Probleme wie auch die grausame Tat eines Neonazis. Rezension zum Film „Nach Wriezen“ (2012).
(Johannes Spohr) Die Situation der Entlassung gestaltet sich für viele ehemalige Inhaftierte schwierig. In welche Situation gerät man? Wer erwartet eine_n? Wie ist die finanzielle Situation? Wo kommt man unter? Findet man eine Arbeit, eine Ausbildungsungsstelle mit dieser Vergangenheit? Wie mit den Knasterfahrungen umgehen? Entlassene sind meist Stigmatisierungen ausgesetzt – sofern sie ihren Gefängnisaufenthalt nicht verschweigen. Der Knast begleitet sie meist noch jahrelang – nicht nur in Form von „Bewährungshelfer_innen“.
Der ehemalige Sozialarbeiter und heutige Filmemacher Daniel Abma, geboren 1978 in den Niederlanden, begleitete drei junge Menschen bei und nach ihrer Entlassung. Fast drei Jahre lang filmte er mit Imo (22), Jano (17) und Marcel (25), beginnend mit ihrer Entlassung aus der JVA Wriezen, einer Kleinstadt im märkischen Oderbruch. Jano wird als kleinkrimineller Drogendealer vom Dorf vorgestellt, Imo als jemand, der seine Aggressionen und Gefühle nicht im Griff hat. Marcel war 2002 an der rassistisch motivierten Ermordung des 16-jährigen Marinus aus Potzlow beteiligt und wurde dafür zu acht Jahren Haft verurteilt. Die auffallende Gemeinsamkeit der drei jungen Männer besteht – abseits davon, dass sie aus der Haft entlassen wurden und zurecht kommen müssen – darin, dass sie anschließend sehr schnell eine Partnerin finden und alle drei Vater werden. Alle drei suchen sie zunächst Unterkunft und Arbeit und scheinen bemüht den geforderten Auflagen nach zu kommen – all dies mit unterschiedlichem Erfolg.
Vor dem Hintergrund der deutschen Provinz wird in dem Film eindrücklich veranschaulicht, wie beschränkt die Chancen für eine als „erfolgreich“ angesehene Entlassungssituation überhaupt sind. Wer einen Ausbildungsplatz oder eine Arbeitsstelle findet, kann sich glücklich schätzen, aber mit größeren Wünschen sollte sich zurückgehalten werden. Der Film wirkt durch die Wahl der Charaktere unweigerlich wie ein „Unterschichtsporträt“. Einige Szenen müssen einem Mittelschichtspublikum slapstickartig erscheinen. Wer trostlose und graue Lebensrealitäten kennt, wird dies vielleicht nicht so empfinden. Der Film beteiligt sich unter anderem damit an einer gängigen Klischeeproduktion über „Knackis“. Schon die Auswahl der Protagonisten legt dies nahe. Sie erscheinen als Randfiguren und zeigen genau nicht die Normalität und Durchschnittlichkeit von Kriminalität. Eher geben sie Aufschluss darüber, wer polizeilich verfolgt und geschnappt wird, auch wenn der Fall Marcel S. hierbei eher eine Ausnahme darstellt.
Als Zuschauer_in ist es sehr einfach, sich von diesen Figuren und deren „Kriminalität“ zu distanzieren – sie bleiben immer die Anderen. Eine gesamtgesellschaftliche Einordnung der Handlungen der Portraitierten bleibt aus. Die Frage, warum sie als „kriminell“ bezeichnete Handlungen ausführen oder ausgeführt haben, sie also mit dem Gesetz in Konflikt geraten sind, stellt sich unweigerlich, bleibt jedoch unbeantwortet. Offen und interessant bleibt zudem, wie es zu ihrer Auswahl kam. Zwar wird deutlich, womit sie zurecht kommen müssen, aber die Voraussetzungen für ein erfolgreiches Zurechtkommen bleiben diffus. Ob es diesen Erfolg geben wird oder nicht, wird gewissermaßen den individuellen Charakteren und ihrem Willen zugeschrieben. Erfolg wird mit einer selbst aufgebauten, „ordentlichen“ Infrastruktur, vor allem mit einer vorhandenen Lohnarbeit gleichgesetzt. Am besten ist es, wenn kein allzu großes Chaos aufkommt: kein ausschweifendes Feiern nach der Haft, kein Kiffen, kein Über-die-Stränge-schlagen.
Welche Einstellung man zur Arbeit entwickelt, hängt – das sagt der Film nicht deutlich – auch vom Umfeld und den Personen, denen man nach der Haft begegnet sowie ihrem Engagement ab. Deutlich wird das bei Imo, der bei seinem Arbeitgeber und Vermieter Uwe auf einem Barackenhof unterkommt, auf dem er auch arbeitet. Er wird von diesem gemaßregelt und mit der Welt „harter Arbeit“ vertraut gemacht. Das ändert allerdings nichts daran, dass er immer mal wieder emotional „entgleist“ und sich beispielsweise der Sachbearbeiterin des Jugendamtes gegenüber nicht gerade taktvoll verhält.
Leider bleiben die an die Entlassenen gestellten Anforderungen und auch die, die sie an sich selbst stellen, bis auf Ausnahmen unsichtbar. Als Jano erwähnt, aus welchen Gründen er sein Praktikum abgebrochen hat, wird dieser Randbemerkung nicht weiter nachgegangen. So rückt sein „Versagen“ statt den prekären Arbeits- und Ausbildungsverhältnissen in den Vordergrund.
Trotzdem schafft es Abma teilweise, das Vertrauen seiner Protagonisten zu gewinnen. Er hat dafür eine Menge Geduld aufgebracht und bekommt dadurch auch eine der größten Gefahren ehemaliger Inhaftierter vor Augen geführt: die, wieder in den Knast zu kommen. Jano landet dort wieder, kurz nachdem sein Kind zur Welt gekommen ist. Unmittelbar vor seiner Festnahme entsteht eine Aufnahme, bei der er sich betont lässig gibt und darüber spricht, wie der Knast auf ihn gewirkt hat:
„Die Leute werden bekloppt da im Kopf. […] Ich hab krimineller und andersweitig gedacht als vorher. Vorher hab ich nicht irgendwie gedacht, na, die Polizei ist ja auch noch da, aber hab immer Respekt gehabt, Angst…Aber wenn man schon mal da drinne war, hat man keine Angst mehr.“
„Da werd ich ganz böse dann“ – Ein ganz besonderer Protagonist
Im Sommer 2002 wurde der 16-jährige Marinus Schöberl aus Gerswalde von drei jugendlichen Nazis in einer ehemaligen Schweinemastanlage im brandenburgischen Potzlow ermordet. Er wurde über einen langem Zeitraum und extrem brutal gefoltert. Bekannt wurde der Fall vor allem, weil die Täter eine Szene aus dem Film „American History X“ als Vorbild benutzten. Das Opfer suchten sie sich eigenen Aussagen zufolge eher zufällig aus, während des Folterns beschimpften sie den 16-jährigen als Juden. Die zahlreichen Details der Tat verdeutlichen eine extreme Brutalisierung in einer rechten Alltagskultur und den „ganz normalen“ rassistischen Wahnsinn der Brandenburger Provinz. Die Tat wurde in Theater („Der Kick“, 2005) und Film („Zur falschen Zeit am falschen Ort“, 2006) schon zuvor verarbeitet.
Einer der drei jungen Männer war Marcel S.. Von der Tat wird in „Nach Wriezen“ beiläufig erzählt, als seine Freundin einen Zeitungsartikel über seine Entlassung vorliest. Marcel bestätigt die „Korrektheit“ des Artikels, Reue zeigt er nicht. Es wirkt, als messe er der Tat nach wie vor Sinn bei, auch wenn er sich oberflächlich davon distanziert, den Eltern „ihren Sohn weggenommen“ zu haben. „Das Ding mit der Kante und alles“ sei „schon extrem“ gewesen. Sein Problem habe damals darin gelegen, dass er keine Gefühle zulassen konnte, sagt er. Heute wirkt er vor allem gefühllos, wenn er über die Tat redet. Welche Gefühle er bei dem Mord, den er begangen hat, gehabt hat, bleibt sein Geheimnis. Emotional wird Marcel dann, wenn er über „Kinderficker“ redet, von denen Berlin ja voll sei und die er, sollte seiner Tochter etwas angetan werden, „platt“ und „fertig“ machen werde. Sie würden schließlich, so seine Aussage, im Gegensatz zu Mördern „immer wieder rückfällig“. Er wirkt dabei gedrungen und aggressiv. Eine Therapie macht er vor allem, weil es zu den Bewährungsauflagen zählt. Er selbst sieht sich nicht als therapiebedürftig, weder als gefährlich noch als gefährdet an. Die Gründe für seine Tat, offensichtlich verknüpft mit einer extrem rechten Weltsicht, werden bis zum Ende nicht deutlich benannt. Auf seine alten Freunde angesprochen, betont Marcel, dass er nach wie vor Kontakt zu ihnen pflege und sie ihre Gesinnung nicht geändert hätten.
Schließlich seien sie „Leute, die sich nicht unterkriegen lassen“. Warum er sich das vorher deutlich sichtbare Hakenkreuz übertätowieren, das NSDAP auf den Zehen hingegen hat langsam verblassen lassen, erzählt er nicht. Auf ein großes „White Power“ Symbol auf dem Oberarm wird er gar nicht erst angesprochen. Auf die Frage nach den näheren Zielen und Wünschen für die kommende Zeit geben er und seine Freundin sich glücklich und zufrieden. Einen neuen Fernseher wolle man sich im kommenden Jahr kaufen. Man wünscht sich, dies sei tatsächlich ihr einziger Plan.
Marcel ist der einzige der Protagonisten, der sein Kind behalten kann und es nicht vom Jugendamt weggenommen bekommt. Auch dadurch erscheint er als der erfolgreichste unter den dreien. Sich mit seinem Weltbild auseinanderzusetzen, kommt nicht zur Sprache. Der Knast war dafür sicherlich auch der denkbar ungünstigste Ort. Da er es aber auch nicht vorhat bleibt er ein Fall für die Antifa. Der Unterton des Films suggeriert jedoch die Umgangsformen der akzeptierenden Jugendarbeit mit rechten Jugendlichen, so wie sie Marcel aus seinem Herkunftsort kennen dürfte. Seine Tat wird gewissermaßen neutralisiert, weil über die Beweggründe nicht gesprochen wird. Man begnügt sich stattdessen mit dem Etikett „Mörder“.
Interessant bleibt die Frage, warum ausgerechnet jemandem wie Marcel im Film ein Forum gegeben wurde. Seine Tat überlagert gerade dadurch, dass sie nicht genauer benannt wird, alle anderen Geschichten des Films. Deutlich wird lediglich, dass das Gefängnis kein Ort ist, an dem einem eine rechte Gesinnung abhanden kommt. Das gehört allerdings auch nicht zu den vielen nicht eingehaltenen, aber propagierten Leitideen des Knastes. Für eine oftmals nicht einfache Diskussion des Sinns von Gefängnis und Strafe ist es sinnvoll, sich die profane Erkenntnis zu eigen zu machen, dass im Knast auch Menschen wie Marcel sitzen. Es wäre zu hoffen, dass der Film nicht Zweifel an der Entlassung von Menschen aus der Haft, sondern an der Sinnhaftigkeit von Strafhaft generell weckt. Leider werden die Protagonisten durch die Art der Darstellung und die ausbleibende Kontextualisierung wie so oft in erster Linie zu „Ex-Knackis“ gemacht. Die Gründe der Inhaftierung bewusst unbenannt zu lassen, kann entstigmatisieren. In „Nach Wriezen“ wird allerdings das fortgeführt, was auch in Strafdiskursen häufig getan wird: die Ursachen für Gesetzesübertritte wie auch für das Einsperren von bestimmten Menschen verschweigen.
Interessant erscheint in Anbetracht des Films die Idee, ein Zusammentreffen der drei Protagonisten zu arrangieren. Was wäre das für ein Diskurs über „Kriminalität“?
Zu viel und zu wenig Distanzierung – beides steckt in diesem Film. Am Ende bleiben mehr Fragen als Antworten, aber selbst die richtigen Fragen stellen sich nicht einfach von selbst.
Nach Wriezen (Beyond Wriezen), 2012, 87 min. Regie und Drehbuch: Daniel Abma. (Facebook)