Artikel in der Jungle World vom 12.9.2013:
Auch in entlegenen Gegenden Russlands geht die Polizei hart gegen Oppositionelle vor. In Murmansk steht der Antifaschist Aleksej Raschodtschikow vor Gericht.
von Johannes Spohr
Das nördlich des Polarkreises gelegene Murmansk ist mit etwa 300 000 Einwohnern die größte Stadt der Arktis. Hier hat sich in den vergangenen Jahren eine kleine, lebendige und undogmatische politische Szene herausgebildet, die von Menschenrechtsorganisationen, antifaschistischen und kulturellen Initiativen sowie einem starken internationalen Austausch geprägt ist. Diese Aktivitäten werden vom russischen Staat seit jeher kritisch beäugt, überwacht und auch immer wieder angegriffen. In letzter Zeit häufen sich allerdings Repressalien in einem bisher kaum gekannten Ausmaß, von denen immer wieder auch nichtrussische Aktivisten betroffen sind.
Bereits Ende Juli wurden vier Bürgerinnen und Bürger der Niederlande, die an einem Forum für Menschenrechtsfragen teilnahmen, von der Polizei und der Migrationsbehörde festgesetzt. Anschließend wurden sie mehrere Stunden lang verhört, die Veranstaltung wurde von der Migrationsbehörde abgebrochen. Die Betroffenen mussten eine Geldstrafe von umgerechnet etwa 100 Euro wegen angeblicher Verstöße gegen Visabestimmungen zahlen. Ein angesetzter Prozesstermin wurde abgesagt, die angedrohte Anwendung des Gesetzes gegen die »Propaganda für nichttraditionelle sexuelle Beziehungen« blieb aus. Allerdings wurde Filmmaterial beschlagnahmt, das sie für einen Film über die Rechte von LBGT-Personen gedreht hatten.
Besonders gefährdet sind dauerhaft in Russland lebende Menschen, die ins Visier der Behörden geraten (siehe Interview Seite 20). So ist der anarchistische und antifaschistische Aktivist und Musiker Aleksej Raschodtschikow innerhalb von kurzer Zeit mehrfach verhaftet worden und erwartet nun einen Prozess, bei dem ihm zehn Jahre Haft drohen. »Säkularisierung oder Tod« stand auf einem Plakat, das er am 15. Mai am Rande einer von der Stadtregierung organisierten christlich-orthodoxen Zeremonie hielt.
Das im vorigen Jahr geänderte föderale Gesetz zur Versammlungsfreiheit erschwert die Organisation und Durchführung von Demonstrationen erheblich und macht sie zu einer potentiell kostspieligen Angelegenheit. Raschodtschikow wurde kurz darauf zu einer Geldstrafe von umgerechnet etwa 500 Euro, gut einem Monatsgehalt in Russland, verurteilt. Ihm wurde vorgeworfen, gemeinsam mit anderen Protestierenden eine illegale Demonstration gebildet zu haben. »Es geht bei diesen Strafen vor allem um Einschüchterung. Viele können das nicht bezahlen«, kommentiert dies eine junge Aktivistin, die vor kurzem bei einer ähnlichen Einzelaktion kontrolliert wurde, allerdings keine Geldstrafe erhielt.
Am 23. Juli wurden Raschodtschikow und einige Freunde nachts an einem zentralen Platz in Murmansk von Polizisten nach ihren Ausweisen gefragt, vermutlich aufgrund ihres punkigen Aussehens. Als er die Polizisten nach deren Idenifikation fragte, wurde er eigenen Aussagen zufolge zu Boden geworfen und verprügelt. Die Misshandlungen seien auf der Polizeistation fortgeführt worden, so Raschodtschikow. Vertreter des Jugendmenschenrechtsrats der Region Murmansk und einer zivilgesellschaftlichen Beobachterkommission für Hafteinrichtungen besuchten in derselben Nacht die Polizeistation und fotografierten Raschodtschikow mit einem Kopfverband neben einem großen Blutfleck an der Wand. Das Foto geriet anschließend an die Presse. Raschodtschikow erhielt eine Strafe wegen »Trunkenheit in der Öffentlichkeit« und Beleidigung der »Menschenwürde«. Das sind Ordnungswidrigkeiten.
Erst nach der Veröffentlichung des Fotos wurde gegen ihn der Vorwurf erhoben, er habe einen Polizisten während der Festnahme mit einem Messer angegriffen. »Dieser Fall ist hundertprozentig politisch und konstruiert, die Autoritäten haben es darauf abgesehen, mich zu inhaftieren«, kommentiert er die Vorwürfe. Er hat die beteiligten Polizisten angezeigt. Deren Aussagen widersprechen sich, so wird nicht mehr einhellig von einem Messerangriff, sondern teilweise nur von einem Tritt geredet. Videoaufnahmen von dem Platz, die zu einer Aufklärung beitragen könnten, werden bisher zurückgehalten.
Ein Verfahren wurde am 1. August eingeleitet. Am selben Tag stürmten vermummte und mit Maschinenpistolen bewaffnete Spezialkräfte der russischen Polizei ein internationales Jugendcamp bei Apatity in der Region Murmansk, in dem Raschodtschikow sich aufhielt. Der Pressemitteilung der Organisatoren des »Vostok Forum« zufolge wurden Aktivisten »auf brutale Weise zu Boden gerissen« sowie »angeschrien und bedroht«. Einige seien »vereinzelt in verschiedenen Räumen und ohne Angabe von Gründen« festgehalten worden. Raschodtschikow wurde abermals festgenommen und mit einer Tüte über dem Kopf verprügelt. Nach der Aufnahme eines Protokolls auf der lokalen Polizeistation sei er auf dem Weg nach Murmansk in einen Wald gebracht und brutal gefoltert worden, sagt Raschodtschikow. Aber dieses Mal sei darauf geachtet worden, keine Spuren zu hinterlassen. Abermals sei er bedroht worden.
Begründet wurde der Einsatz später damit, dass Aleksej seinen Aufenthaltsort habe verschleiern wollen. Er befindet sich derzeit nicht mehr in Untersuchungshaft, sondern mit einer elektronischen Fußfessel zu Hause und wartet auf das Ende der Beweisaufnahme. Befreundete Aktivistinnen und Aktivisten schreiben dem Fall eine hohe symbolische Bedeutung zu: »Die Polizei erhielte bei einer Verurteilung die Legitimation, jeden einfach auf der Straße anzugreifen.« In Russland werden 97 Prozent der Angeklagten verurteilt, doch Raschodtschikow versucht, die Situation positiv zu sehen: »Ich habe einen starken Glauben daran, dass jede Erfahrung wertvoll ist, und ich lerne, die Freiheit zu schätzen.«