Artikel in der Jungle World vom 19.9.2013:
Ein Rundgang durch die Hauptstadt der Ukraine.
von Johannes Spohr
Samstagnachmittag am Dnepr: Auf einer zerfallenden Brücke über den Fluss, die es dem Stadtplan zufolge gar nicht mehr gibt, umgeben vom Industriecharme des naheliegenden Hafens, bemerken wir eine etwa 30köpfige, im Kreis stehende Gruppe. Vereinzelt sind Hüpfbewegungen der Beteiligten auszumachen. Wir nähern uns der Brücke. Nachdem wir einen wenig motivierten Wachmann davon überzeugt haben, dass wir nur gucken wollen, Flatterband überwunden und Löcher im Brückenboden vermieden haben, reihen wir uns ein, als schüchterner und vielleicht auch ältester Teil des Kreises. Es herrscht gute Stimmung unter den jungen Leuten um die zwanzig. Elektronische Musik dröhnt aus einem MP3-Player mit Boxen, jeweils ein oder zwei Personen tanzen dazu. Ihr Stil erinnert an eine Mischung aus Schuhplattler und Breakdance, die T-Shirts der Teilnehmenden verraten uns allerdings, dass es sich um den »Ukrainian Jumpstyle« handelt. Beim Jumpstyle wirft man die Beine im Rhythmus nach vorne oder hinten oder kickt mit ihnen, und man dreht sich. Man kann paarweise nebeneinander als »Duo-Jump« oder, einander gegenüberstehend, im »Duo-Kick«, aber auch allein tanzen. Freestyle ist ebenfalls erlaubt. Eine Jury gibt nach den ein- bis zweiminütigen, konzentrierten und athletischen Performances ihr Urteil durch ein Megaphon ab. Später Kommende werden vom Publikum ebenso bejubelt wie Vortanzende. Die ihre Performance beendet haben, scheinen in der Regel recht schnell von dannen zu ziehen. Auf ein größeres Publikum scheint man es hier nicht unbedingt abzusehen. Auch wir werden kaum wahrgenommen, stören aber anscheinend auch nicht.
Im angrenzenden Stadtteil Podil, wo viele der ältesten Gebäude der ukrainischen Hauptstadt Kyjiw (Kiew) stehen, fällt uns ein Laden mit dem Namen »Freud House« ins Auge. Erkundigungen bei den jungen Menschen an der Theke ergeben, dass es sich um ein »Anti-Café« handelt. Dabei folgt man einem Konzept, das derzeit auch in Russland immer beliebter wird: Man bezahlt nicht für die konsumierten Produkte, sondern für die dort verbrachte Zeit. Benutzen kann man in dieser Zeit alles, was das Anti-Café in den unterschiedlich eingerichteten Räumen auf zwei Etagen zu bieten hat: Brettspiele, ein Tischfußball, W-Lan, Bücher, Filme. Kaffee und ein paar kleine Snacks kann sich jede und jeder selbst zubereiten, zu den Höhepunkten gehört ein selbstgebrühter Mokka, getrunken auf der pittoresken Terrasse. Seinen Namen erhielt das Freud House von einer der Beteiligten, einer Psychotherapeutin, er schlägt sich vor allem in einem stilvoll eingerichteten Raum mit Couch, Schreibtisch und zahlreichen Bildern Sigmund Freuds nieder. Die einzelnen Räume, darunter auch ein Sport- und ein Debattierraum, können auch von Gruppen gemietet werden, es gibt reichlich Platz für Kunstausstellungen und Veranstaltungen. Die meisten jungen Menschen in Kiew und der Ukraine wohnen auf recht engem Raum mit ihren Familien zusammen – ein Rückzugsraum also?
Roman, einer der Betreiber, erklärt uns das Konzept. »Es gibt einfach kaum Räume für junge Menschen, um sich zu treffen und gemeinsam Dinge zu unternehmen«, sagt er. »In Kneipen ist es meist zu verraucht und zu laut.« Anti-Cafés könnten als eine Art Nachfolger sowjetischer Arbeiterclubs gelten. Roman, der für einen Fernsehsender arbeitet und Medienpädagogik studiert, beschreibt die Stimmung junger Menschen hierzulande als vorwiegend pessimistisch und resignativ. Die meisten seiner Freundinnen und Freunde wollten am liebsten weggehen, nach Deutschland zum Beispiel. Er selbst mit seiner guten Ausbildung versuche, hierzubleiben und einigermaßen über die Runden zu kommen. Von der Aufbruchstimmung der »orangenen Revolution« sei nicht viel geblieben, die meisten Menschen seien verbittert und enttäuscht über ausbleibende Veränderungen. »Und Julia Timoschenko?« – »Am schlausten wäre es für die Regierung wohl, sie langsam zu vergiften, so dass sie erst nach der Haft stirbt.«
Schnell landet unser Gespräch bei historischen Themen. Roman ist der Meinung, die Menschen in der Ukraine seien heute viel eher bereit, der Sowjetherrschaft zu vergeben als der nationalsozialistischen Besatzung. In den Parkanlagen, nur ein paar Metrostationen vom Freud House entfernt, manifestieren sich die verschiedenen historischen, sowjetischen wie postsowjetischen, Narrative und ihre Überlagerungen anschaulich und kompakt. Die am 9. Mai 1981, dem 36. Jahrestag des Sieges über die Nationalsozialisten, eingeweihte 102 Meter hohe »Mutter Heimat«-Statue ist bis heute eine Art Wahrzeichen der Stadt – trotz Hammer und Sichel auf dem Schutzschild. Der sie umgebende Gedenkpark, in dem sich unter anderem das »Museum des Großen Vaterländischen Kriegs« befindet, ist ein Ort der Superlative, der Emotionalisierung und des Heroismus. Zwischen Figuren bewaffneter Soldaten erklingt das sowjetische Lied »Den’ Pobedy« (Tag des Sieges) aus den Boxen. Ein kleineres Museum widmet sich den von der Sowjetunion geführten »antiimperialistischen« Kriegen, allen voran dem überhaupt sehr präsenten Afghanistan-Krieg. Unter den zahlreichen Waffengattungen auf dem Areal stechen zwei sich gegenüberstehende, bunt bemalte T-64-Panzer vor dem Hauptmuseum heraus – ein Bruch in der ansonsten homogen wirkenden Umgebung.
In direkter Nachbarschaft dazu befindet sich eine weitere touristische Attraktion: das Höhlenkloster, eines der ältesten russisch-orthodoxen Klöster des Kiewer Rus. Zwischen dieser und einer weiteren während der Sowjetherrschaft erbauten Anlage für die im Zweiten Weltkrieg gefallenen Soldaten der Roten Armee, einem Obelisken, wurde 2009 eine Gedenkstätte für die Opfer der Hungerkatastrophe der frühen dreißiger Jahre fertiggestellt, die inzwischen meist »Holodomor« (etwa: »Tötung durch Hunger«) genannt wird. Die Erinnerung an diese Opfer spielt inzwischen im ukrainischen Narrativ eine herausragende Rolle, auch wenn das Gedenken an den Zweiten Weltkrieg nach wie vor dominant erscheint. Doch Projekte, die sich wie das Ukrainan Center for Holocaust Studies mit der Shoa beschäftigen, arbeiten heutzutage unter prekären Bedingungen und sind größtenteils auf Gelder ausländischer Stiftungen angewiesen.
Unser Weg führt uns nach dem ausgedehnten Gespräch im Freud House weiter auf den Kontraktova-Platz, das Herz des Stadtteils. Neben kleinen Autos wird starker Espresso verkauft, viele trinken ihn auf den zahlreichen Bänken. Erneut treffen wir auf die Jumpstyle-Tänzer, diesmal mit größerem Publikum. Als unsere Begleiterin Oksana sie als »Touristen« bezeichnet, sind wir etwas enttäuscht und fühlen uns unserer Underground-Erfahrung des Vormittags beraubt. Am Kontraktova-Platz betreten wir die U-Bahn und sind zunächst verwundert über eine nicht sichtbare Schranke, die die Menschen dazu zu bringen scheint, U-Bahn-Marken in die Automaten zu werfen. Oksana erklärt uns, dass, wenn man keine einwirft, eine durch Lichtschranke ausgelöste Sperre einem gegen die Beine schlägt. Wir probieren es lieber nicht aus, sondern fahren beschwerdefrei zum Nationalen Sportkomplex »Olimpijskyj«, um das Fußballspiel Dynamo Kiew gegen Tschornomorez Odessa anzuschauen. Dynamo Kiew war in den vergangenen Jahren immer wieder wegen rassistischer Ausfälligkeiten seiner Fans in den Schlagzeilen, die Ultraszene gilt als vorwiegend rechts und gewalttätig. Nur vereinzelt lassen sich heute beim Ansturm der Fans eindeutig rechte Symbole erblicken. Im Block der Ultras wehen später einige schwarz-rote Fahnen, ein Bekenntnis zu der Organisation Ukrainischer Nationalisten, deren militärischer Arm bis 1944 an der Ermordung Zehntausender Juden, Polen und Russen beteiligt war. Die in ihrer Zahl überschaubaren Odessa-Fans zünden ein paar Bengalos, ansonsten ist die Stimmung gelassen im offensichtlich schwer zu füllenden Olympia-Stadion. Es wurde für die Europameisterschaft 2012 komplett umgebaut, heute bleiben viele Plätze leer. Vor dem Stadion, das ich frühzeitig verlassen muss, begegnet mir ein aufgeregter Fan, der es nicht rechtzeitig zum Spiel geschafft hat und den aktuellen Spielstand erfahren möchte. Ich schenke ihm mein Ticket für die letzten Spielminuten, in denen sich am Spielstand 1:2 für Odessa allerdings nichts mehr ändert.
Am Nachmittag darauf besteht ein Freund darauf, mir bei sengender Hitze die Parks der näheren Umgebung zeigen. Am interessantesten ist die Parkanlage in der Pejsaschna-Allee, die 2012 zum Gegenstand politischer Auseinandersetzung wurde. Damals sollten einige Garagen abgerissen und Hochhäuser direkt an die Parkanlage gebaut werden, die schon immer von vielen Bürgerinnen und Touristen als Ausflugsziel und Ausblickspunkt genutzt wurde. Ihr Charakter wäre damit zerstört worden. Es kam zu von der Stadtregierung nicht erwarteten Protesten, weswegen Sasha den Park auch »Klein-Gezi« nennt, nach dem Istanbuler Park. Baufahrzeuge wurden über Nacht zerstört und die Baugruben wieder mit Erde zugeschüttet, bis die Verantwortlichen schließlich aufgaben. Das Verwaltungsgericht entschied zudem gegen eine Bebauung des Areals, da es sich um ein Unesco-Weltkulturerbe handelt. Bereits abgerissene Garagen mussten wieder aufgebaut werden. Seit 2009 finden sich auf der Pejsaschna-Allee Skulpturen verschiedener Künsterinnen und Künstler, die sich unter dem Projektnamen »Kiev Fashion Park« zusammengefunden haben und teilweise von den Anwohnerinnen und Anwohnern finanziell unterstützt wurden. Hinzu kommen Spielplätze und viel Raum zum Ausspannen auf dem oberhalb von Podil gelegenen Hügel. Für den Weg herab nehmen wir die Standseilbahn, die Funikuler, wie sie hier heißt. Sasha zufolge ist sie inzwischen eher eine Attraktion für Touristen als ein unverzichtbares Fortbewegungsmittel. »Dann kommt mal morgens um sechs her«, entgegnet eine neben uns sitzende Frau lächelnd.
Wieder in Podil, erwartet uns ein Punkkonzert, teilweise mit Bekannten aus verschiedenen Ländern. »Sorta« aus Belarus, »Murder« aus Kiew, »The Fight« aus Warschau und Dresden, »Jungbluth« aus Münster sollen in einer angemieteten Halle spielen, die auf den ersten Blick aussieht wie ein Flugzeughangar. Die Zeit, in der man auf die im Stau festhängenden Bands wartet, kann mit dem Verzehr veganer Sandwiches und diversen ukrainischen Bieren vom Kiosk überbrückt werden. Einige Punks verkaufen Siebdruck-T-Shirts mit sympathisch kryptischen, chaotischen Motiven. Beim Gespräch mit dem Drucker erfahre ich, dass er eine abgrundtiefe Abneigung gegen penibel saubere Drucke wie auch solche Punks hat. Er selbst hat zahlreiche Tätowierungen mit ähnlichen Motiven. Das im Hinterhof beginnende Konzert wird von den Anwesenden gebührend gefeiert. »Es kommen nicht allzu viele Bands aus anderen Ländern hierher, vielleicht alle paar Wochen gibt es ein Event wie heute«, erklärt Sasha die Euphorie und die Besonderheit des Abends. Noch vor der letzten Band tauchen Polizisten auf und sorgen mit ihrer Anwesenheit eine Weile lang für eine verhaltene und gedrückte Stimmung. Sie werden schließlich beschwichtigt, und es kann weitergehen – auch bis nach zehn Uhr. Der Drucker will auf dem Nachhauseweg von mir wissen, wie mir das Konzert gefallen habe, und kommt mir mit einer Antwort zuvor: »So ein Mist. Die größten Macker applaudieren bei einer Ansage gegen Homophobie, ohne zu verstehen, worum es geht.« Es ist nicht die erste Szene, die mir an diesem Abend vertraut erscheint.