Artikel in der Analyse & Kritik #595:
Geschichte, Narrative und historische Symbole im Ukrainekonflikt
Von Johannes Spohr
Feierabend für Lenin: Am 21. Februar 2014 fällt die 1971 errichtete Statue im Zentrum der Stadt Schytomyr, 120 Kilometer westlich von Kiew. Mithilfe eines Lastkraftwagens wird sie unter dem Jubel von etwa 500 Menschen vom Sockel gerissen. Zu den begleitenden Parolen, die durch die Nacht hallen, gehört nicht nur »Ruhm der Ukraine«, sondern auch »Revolution«. Einige Anwesende stecken sich Bruchstücke des gefallenen Revolutionsführers als Andenken ein. Doch es bleibt nicht bei der Zerstörung. Wie in vielen Städten, in denen Lenin wahlweise abgebaut oder auch »geschlachtet« wird, hängt an dem verbliebene Sockel wenig später ein Plakat mit Bildern der in diesen Tagen im Zentrum Kiews ermordeten Menschen, der »Helden des Maidan«. Häufig kommen Menschen an diesen zentralen Platz und legen Blumen nieder.
Diese Zeremonie ist Teil eines umfassenden Abschieds vom Sowjeterbe in der Ukraine, wie auch ein anschaulicher Versuch der Etablierung eines neues Gedenkens. Seit den Ereignissen, die hier meist kurz als »Maidan« bezeichnet werden, hat sich in der Ukraine die Tendenz durchgesetzt, die in den 1990er Jahren erfolgte ökonomische Entsowjetisierung nun auch kulturell durchzusetzen und gleichzeitig die entstehenden Leerstellen zu füllen. Molotowcocktails des Maidan sind schon heute im Nationalmuseum der Geschichte der Ukraine in Vitrinen zu betrachten.
Konkurrierende Narrative
Die Bewegung verhandelt die auf die Zukunft gerichtete Gegenwart unmittelbar im Bezug auf die Geschichte und stellt zahlreiche Bezüge her. Damit ist sie nicht allein: Auch für GegnerInnen des Maidan spielen historische Bezüge eine immense Rolle. Zentral ist der Bezug auf das Verhältnis zur Sowjetunion, aus dem sich vor allem zwei konkurrierende Narrative speisen: Ein an Bedeutung gewinnendes Narrativ sieht die Ukraine vor allem als Opfer der Okkupationsmacht Sowjetunion. Bedeutender Bezugspunkt ist hier die Hungersnot Anfang der 1930er Jahre, gemeinhin »Holodomor« (etwa »Tötung durch Hunger«) genannt. Sowohl in der Historiografie als auch in der breiten öffentlichen Wahrnehmung hat sich die Ansicht durchgesetzt, diese sei von der Politik Stalins zielgerichtet gegen die ukrainischen Bäuerinnen und Bauern eingesetzt worden.
In Konkurrenz zu dieser Sichtweise steht ein prosowjetisches Narrativ, das sich vor allem auf den Sieg im Zweiten Weltkrieg bezieht, der ohne Stalin nicht hätte gewonnen werden können. Die Verbrechen Stalins verblassen hier neben dem Stolz auf den Sieg im »Großen Vaterländischen Krieg«. Der positive Bezug auf einen starken, zentralisierten Großstaat meint häufig auch das heutige Russland. Dieses geteilte Gedächtnis ist in groben Zügen auch übertragbar auf das geteilte Land Ukraine: antisowjetische Bezüge im Westen, prosowjetische im Osten und Südosten.
Einen sehr kompakten und anschaulichen Eindruck dieser Narrative und ihrer Überlagerungen bekommt, wer sich in Kiew in die Parkanlagen rund um die 102 Meter hohe »Mutter Heimat« begibt. Die am 9.Mai 1981, dem 36. Jahrestag des Sieges über Nazi-Deutschland, eingeweihte, 102 Meter hohe Statue ist bis heute eine Art Wahrzeichen der Stadt– trotz Hammer und Sichel auf dem Schutzschild. Der sie umgebende Gedenkpark, in dem sich unter anderem das Museum des Großen Vaterländischen Krieges befindet, ist ein Ort der Superlative, der Emotionalisierung und des Heroismus. Zwischen Figuren bewaffneter Soldaten erklingt das sowjetische Lied »Den’ Pobedy« (»Tag des Sieges«) aus den Boxen. Zwischen der Touristenattraktion Höhlenkloster und einer weiteren während der Sowjetherrschaft erbauten Anlage für die im Zweiten Weltkrieg gefallenen Soldaten der Roten Armee, einem Obelisken, wurde 2009 in unmittelbarer Nachbarschaft eine Gedenkstätte für die Opfer der Hungerkatastrophe der frühen 1930er Jahre fertiggestellt.
Gegen die »Besatzer«
Ein zentraler historischer Bezugspunkt in der Maidan-Bewegung wurde und wird durch schwarz-rote Fahnen sowie Konterfeis tausendfach kenntlich gemacht: die Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) bzw. ihr militärischer Flügel ab 1943 (UPA) und ihr Führer Stepan Bandera. Zentral für das Selbstverständnis und das Handeln der OUN war, sich gegen jede Form von »Besatzern« zu wehren. Ihr Hauptfeind war dabei stets die Sowjetunion und ihre Herrschaft in der Ukraine. An diese Traditionslinie knüpfen viele Menschen heute an, wenn sie die Fahne der OUN tragen. Der als russlandfreundlich wahrgenommene Kurs des gestürzten Präsidenten Wiktor Janukowytsch und seiner Partei der Regionen wird in die Tradition russischer Dominanz in der Ukraine eingeordnet, sich selbst sieht man dabei als Teil nationaler Befreiung.
Die OUN war Teil der Genese faschistischer Massenbewegungen der 1920er Jahre. Ihre Milizen ermordeten während des Zweiten Weltkrieges in der westlichen Ukraine Zehntausende Polen und Juden. Mehrfach kollaborierten sie in dieser Zeit mit den deutschen Truppen. Momentan scheint es zwar kaum wahrnehmbare positive Bezüge auf diesen Teil der Geschichte der OUN/UPA zu geben, er wird aber verschwiegen, teilweise auch geleugnet. Mit Zunahme der Auseinandersetzungen im Osten des Landes gewinnt der Bandera-Bezug als Symbol nationaler Einheit weiter an Bedeutung. Bereits vor den Umbrüchen der letzten Monate wurde Bandera besonders im Westen des Landes geradezu verehrt, und es wurden ihm einige Statuen gewidmet.
Verwirrend erscheint zunächst, dass auf Bücherständen längs des Maidan heutzutage Bücher des Anarchistenführers Machno angeboten werden. Doch diese Erscheinung ist keine neue: Im Geburtsort Machnos Guljaj Polje wurde ihm bereits 2009 ein staatlich finanziertes Denkmal errichtet. Auch ihn eignet man sich als Nationalheld und Kämpfer nationaler Unabhängigkeit an, seiner antistaatlichen Haltung zum Trotz.
Schwierigkeiten hatten auf dem Maidan von Anfang an Menschen, die linke Symbole mit sich trugen. Nicht nur rote Fahnen und kommunistische Symbole, die pauschal als prosowjetisch gewertet werden, auch feministische Äußerungen wurden nicht geduldet und ihre TrägerInnen teilweise angegriffen und vertrieben.
Faschismusvorwürfe und -vergleiche sind dieser Tage in aller Munde. Seitens der prowestlichen Kräfte ist es häufig Putin, teilweise auch Russland, dem Faschismus vorgeworfen wird. So zum Beispiel auf Aufklebern mit der Aufschrift »RuSSia«, das S ist dabei jeweils als Rune dargestellt. Große Plakate am Straßenrand knüpfen an den Sieg im Zweiten Weltkrieg an: »Wir haben Hitler besiegt, wir werden auch Putin besiegen.« Die Absage an das Sowjeterbe geht nicht so weit, den Ruhm des Sieges mit zu begraben. So bleiben auch sowjetische Denkmäler für die »Helden« im Gegensatz zu den Lenin-Statuen in der Regel unangetastet. Unter denjenigen, die den Krieg und die deutsche Besatzung noch selbst miterlebt haben, fühlen sich einige von der aktuellen Politik Russlands bedroht. So etwa die 92-jährige Oleksandra, die sich noch gut an die Brutalität der Deutschen erinnert: »Es war furchtbar, und heute ist es Putin, der so etwas macht.«
Die Feierlichkeiten zum 9. Mai jedoch wurden in diesem Jahr abgesagt. Der neue Kulturminister Jewgeni Nischtschuk gab bekannt, dass zukünftig auch die Ukraine des Endes des Zweiten Weltkriegs am 8. Mai gedenken wolle, nicht wie Russland am 9: »Damit können wir an den Feierlichkeiten anderer Länder der Anti-Hitler-Koalition teilnehmen«. Roter Mohn soll das neue Symbol der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg werden, dessen Beginn in dazugehörigen Logos nicht mehr wie in der Sowjetunion auf 1941, sondern auf 1939, das Jahr des Molotow-Ribbentrop-Paktes, datiert wird.
»Faschistischer Putsch«
Viele GegnerInnen der Maidan-Bewegung und pro-russische AkteurInnen bezeichnen ihr Handeln als »Antifaschismus«. Die Umwälzungen der letzten Monate interpretieren sie als »faschistischen Putsch«. Auch die staatstreuen russischen Medien transportieren dieses Bild: In Kiew seien seit der Übergangsregierung Faschisten an der Macht, und dies gelte es zu bekämpfen. Auch wenn es eine tatsächlich besorgniserregende Beteiligung von AnhängerInnen der Rechten Sektors und der Swoboda-Partei im Parlament und auf der Straße gibt, ist diese Rhetorik vor allem als Strategie der Delegitimierung anzusehen, die wiederum mit historischen Erfahrungen spielt.
Zum bedeutenden Symbol ist das orange-schwarz gestreifte Sankt-Georgs-Band geworden, dessen Entstehung in die Zeit des Russischen Kaiserreichs zurückreicht. Erinnert werden soll heute vor allem an den Sieg im »Großen Vaterländischen Krieg«, in dem es verschiedene mit dem Sankt-Georgs-Band geschmückte Auszeichnungen gab. 1998 wurde das Band als militärische Auszeichnung in der Russischen Föderation wieder eingeführt. Olga Ponomarowa aus Donezk, deren Großvater Zwangsarbeit und KZ-Haft in Deutschland überlebte, spricht von Schwierigkeiten, die mit diesen Bezügen auch innerhalb der Familien auftauchen: »Seitdem der Konflikt eskaliert ist, heißt es immer öfter, man solle die Erinnerung an den Ruhm der Großväter aufrecht erhalten. Da ich Englisch spreche und FreundInnen in Westeuropa habe, werde ich teilweise angefeindet und mir wird vorgeworfen, diesen Ruhm zu vergessen.« Die Geschichte der meisten Familien nicht nur im Osten der Ukraine ist auf irgendeine Weise mit dem Zweiten Weltkrieg verbunden. Gerade deswegen, so Ponomarowa, sei es absurd, aktuell derlei Vergleiche ins Feld zu führen.
Die Erinnerungspolitik in der Ukraine hat in den letzten Jahren auch einige Symbole hervorgebracht, die sich der Polarisierung ein Stück weit entziehen. Dazu, so die Historikerin Kateryna Kobchenko, gehöre ein Denkmal für ZwangsarbeiterInnen im Zentrum Kiews, das ein älteres Liebespaar darstellt. Es basiert auf der realen Geschichte eines italienischen Kriegsgefangenen und einer in Österreich eingesetzten Zwangsarbeiterin aus der Ukraine, die sich nach Jahrzehnten der Trennung wiedertrafen und ihre Liebesbeziehung wieder aufnahmen. »Hier werden endlich auch die menschlichen Dimension des Krieges gezeigt, die viel zu lange ausgeklammert wurden«, sagt die Historikerin.
Johannes Spohr bereiste im Mai 2014 zusammen mit einer Projektgruppe die Ukraine.