Tot in Odessa

Der Film Lauffeuer beschäftigt sich mit den Ereignissen rund um den 2. Mai 2014 in Odessa.

Vielen, die sich mit den politischen Entwicklungen in der Ukraine seit der Maidan-Bewegung beschäftigen, gilt den 2. Mai 2014 als ein Wendepunkt. Bis dahin hatten in der Stadt konkurrierende Strömungen mit unterschiedlichen Auffassungen zu den Umwälzungen in der Ukraine öffentlich Präsenz gezeigt und sich dabei weder die „Maidan“- noch die „Anti-Maidan“-Demonstrant_innen deutlich durchgesetzt. Eine ganze Weile koexistierten jeweilige Zeltstädte, bis eine bewaffnete und maskierte pro-russische Gruppe die Anhänger_innen des Euromaidan vertrieben. Diese bildeten wie bereits vorher in Kiew bewaffnete „Selbstschutzeinheiten“. Größere Gewaltexzesse blieben jedoch zunächst aus. An 2. Mai kam es hingegen es zu einer Reihe von schweren Auseinandersetzungen auf den Straßen Odessas, bei denen auf der einen Seite Anhänger_innen jener Maidan-Bewegung und verschiedener rechter Gruppen, auf der anderen russlandfreundliche Gegner_innen der neuen Regierung beteiligt waren. Es starben mindestens 50 Menschen, hunderte wurden verletzt. Ein Marsch pro-ukrainischer Gruppen und Fußballfans, an dem auch viele angereiste, sonst verfeindete Hooligans wie auch der „Rechte Sektor“ teilnahmen, wurde auf dem Weg zum Fußballstadion angegriffen, dabei mehrere seiner Anhänger_innen erschossen. Die folgende Eskalation mündete schließlich auf dem Kulikowo-Feld, auf das sich pro-russische Aktivist_innen zurückzogen. Während sie Zuflucht im anliegenden Gewerkschaftshaus suchten, brannten ihre Gegner_innen die dort seit Wochen befindliche „Anti-Maidan“-Zeltstadt nieder. Der aufgeheizte Mob attackierte anschließend das Gewerkschaftshaus mit Molotow-Cocktails, vereinzelt wurde aus seinen Reihen geschossen. Auch aus dem Gewerkschaftshaus flogen Brandbomben und wurden Schüssen vom Dach abgefeuert. Der Luftzug sorgte dafür, dass sich das Feuer im Haus rasant ausbreiten konnte. In der Folge starben über 40 Menschen im Gewerkschaftshaus. Ihre genaue Todesursache ist bis heute nur teilweise gewiss, jedoch eindeutig die Folge des Angriffs auf der Haus. Einige sprangen aus den Fenstern und wurden, wenn sie dies überlebten, von den dort Wartenden verprügelt. Ebenso kam es, wenn auch nur vereinzelt, es zu Rettungsaktionen aus dem pro-ukrainischen Lager. Weitgehend abwesend waren hierbei die Feuerwehr und die Polizei.

Im Gegensatz zum russischen Fernsehen, das die Ereignisse ausgiebig ausschlachtete, ebbte das Interesse westlicher Medien bereits nach zwei Tagen ab. Investigative Recherchen blieben aus. Der Journalist Ulrich Heyden, langjähriger freier Korrespondent für deutschsprachige Medien in Moskau, hat sich nun zusammen mit dem Videokollektiv leftvision an das Thema herangewagt. Ausgestattet mit geringen, auf Spenden basierenden Mitteln, sind er und Marco Benson mehrfach nach Odessa gereist, um sich journalistisch mit dem Ereignis und den Folgen zu beschäftigen. Das Ergebnis, ein 45-minütiger Dokumentarfilm, war nun erstmals im Berliner Kino Moviemento zu sehen.

Ungeklärte Fragen

Die Fragen, denen das Team nachging, betreffen sowohl die Rekonstruktion der Ereignisse am 2. Mai als auch dessen von offiziellen Stellen vernachlässigte Aufarbeitung. Im Mittelpunkt stehen neben Einschätzungen von Journalist_innen und Wissenschaftler_innen schockierende Berichte von 16 Betroffenen und Angehörigen der pro-russischen Seite. Sie berichten unter anderem von den Vorgängen rund um das und im Gewerkschaftshaus, aber auch von dem Klima der Gewalt und der Angst, das diesem Tag folgte. Auch das schmerzliche Ausbleiben von Maßnahmen, die den Opfern und ihren Angehörigen Gerechtigkeit widerfahren lassen könnten, wird benannt. Ein Untersuchungsausschuss der Stadtratsabgeordneten von Odessa löste sich bereits auf, weil die Innenbehörde keine Informationen herausgab. Auch in einem UN-Bericht vom 15. Juni 2014 wird die mangelnde Kooperation der Behörden kritisiert.

Dass Darstellungen der Gegenseite nicht vorkommen, ist den Machern zufolge der mangelhaften Zusammenarbeit von Maidan-Aktivist_innen und staatlicher Behörden vor Ort geschuldet. Am Abend der Erstaufführung machten sie im Gespräch mit dem Publikum deutlich, sie hätten sich auf die Seite der Opfer im Gewerkschaftshaus gestellt.

Eine solch deutliche Positionierung lässt der Film selber vermissen, sie wird jedoch unweigerlich an vielen Stellen deutlich. So wird beispielsweise bezüglich der Schüsse auf pro-ukrainische Aktivist_innen durch von der Polizei geduldete Männer mit roten Armbinden die Theorie aufgenommen, es habe sich um Provokateure gehandelt, die auf eigene Leute schossen. Wer diese Theorie vertritt, wird jedoch nicht genannt. Dass pro-russische Aktivist_innen überhaupt mutwillig für die Schüsse verantwortlich sein könnten und die Polizei sie dabei eventuell begünstigte, scheint von vornherein ausgeschlossen. Dass einer der Beteiligten ein bekannter pro-russischer Aktivist ist, wird nicht gesagt.

Verantwortung und Dynamik

Ob die Ereignisse dieses Tages im Vorhinein geplant waren und ob es dafür politisch eindeutig Verantwortliche gibt, ist umstritten. Eindeutige Anhaltspunkte für eine aktive Unterstützung oder gar gemeinsame Planung gibt es bislang nicht, ebenso wenig kann dies ausgeschlossen werden. Einigen der nebulösen Anhaltspunkte geht der Film nach, dabei wird an manchen Stellen richtigerweise erwähnt, eindeutige Beweise seien nicht vorhanden. Warum jedoch ausgerechnet ein auch eigenen Aussagen nach nicht bestätigtes Youtube-Video mit einem vermeintlich (von wem?) abgehörten Telefongespräch des Oligarchen Igor Kolomojski reproduziert wird, ist in journalistischer Hinsicht eher fragwürdig. Durch die Art der Darstellung legt der Film nahe, es müsse „Strippenzieher“ des Brandes im Gewerkschaftshaus gegeben haben. Klar ist aber bisher nur, dass es Akteur_innen aus Politik und Wirtschaft gibt, die ein Vorgehen gegen die „Anti-Maidan“-Bewegung befürworteten und – wie die Präsidentschaftskandidatin Julija Tymoschenko – guthießen. Daher sind die bisher weitgehend ausgebliebenen kriminalistischen Untersuchungen, die auch im Film als notwendiges Mittel benannt werden, dringend einzufordern.

Die an diesem Tag offensichtliche Gewaltdynamik konkurrierender Nationalismen, potenziert durch angereiste rechte Hooligans aus dem pro-ukrainischen Lager, scheint für die Filmmacher als zentrale Erklärung auszuscheiden. Doch auch ein noch so großer politischer Wille hätte sich am 2. Mai jedoch nicht ohne die massenhafte Bereitschaft zur kompromisslosen Gewalt gegen den politischen Gegner, das Einkalkulieren oder zumindest in Kauf nehmen von Toten nicht durchsetzen lassen. Einige linke Gruppen aus der Ukraine forderten daher vor Kurzem, politische Akteur_innen auf der Straße nicht lediglich als Objekte geopolitischer Spiele in den Blick zu nehmen: „In diesem Interpretationsrahmen erkennt man die Menschen nicht als vollwertige politische Subjekte, die einer eigenständigen kollektiven Handlung fähig sind, und will sie als solche nicht anerkennen.“ (https://diaspora.linksnet.de/posts/14660)

Symbolik und Kontext

Dass sich unter den Mördern der pro-ukrainischen Seite viele Rechte und Neonazis befanden, wird im Film durchaus richtig benannt. Ebenso richtig wird der positive Bezug pro-ukrainischer Aktivist_innen auf Stepan Bandera, den einstigen Führer der Ukrainischen Nationalisten, von einem Journalisten des Lower Class Magazines erläutert und kritisiert.

Dass jedoch auch weitere Termini und Symbole für ein Verständnis des Kontexts erläutert werden müssten, wurde ebenfalls bei Teilen der Solidaritätsarbeit in Deutschland deutlich, auf die sich genanntes Schreiben linker Gruppen bezieht. Darin wird kritisiert, die Organisation Rote Hilfe habe Gruppen wie die Kommunistische Partei der Ukraine (KPU) und Borot’ba unterstützt, die mit ihrem Verständnis von Antifaschismus nicht vereinbar seien (siehe auch: https://linksunten.indymedia.org/de/node/121337). Im Film kommen diverse linke Schlagworte vor, die jedoch kaum oder unzureichend erläutert werden. Das orange-schwarz gestreifte Sankt-Georgs-Band, dessen Entstehung in die Zeit des Russischen Kaiserreichs zurückreicht und mit dem heute vor allem an den russischen Sieg im Zweiten Weltkrieg erinnert werden soll, lediglich mit dem Begriff „Antifa“ zu umschreiben, wird dem komplizierten Kontext keinesfalls gerecht. Auf die heterogenen Ziele der benannten „russlandfreundlichen Organisationen, Anhänger der Partei ‚Heimat‘, der Organisation ‚Einiges Odessa‘, Afghanistan-Veteranen sowie Anhänger der Kommunistischen Partei der Ukraine (KPU) und ‚Borot’ba’“ wird kaum eingegangen. Dies wäre aber notwendig, um einer in Deutschland geläufigen Verklärung der politischen Situation vorzubeugen und muss der Verurteilung des Vorgehens des pro-ukrainischen Mobs keinesfalls entgegen stehen.

Erfrischend sind dazu jedoch die zum Ende des Film eingespielten Aussagen des Kiewer Soziologen Wolodimir Ischtschenko, der betont, die Ansicht, alle Ukrainer seien nationalistisch und faschistisch, sei nah dran an rassistischen Stereotypen. Gleichzeitig leugnet er nicht die Gefahr durch faschistische Parteien und Gruppen. Dass diese im momentanen Klima in der Ukraine auch von der Regierung begünstigt, einbezogen und gedeckt werden und dies auch in Odessa zu einem Klima der Angst führt, macht der Film deutlich.

Ulrich Heyden und leftvision liefern eine Teilrekonstruktion der Ereignisse, in der Zweifel und Zögern an einigen Stellen zu kurz kommen. Bei Lauffeuer handelt sich um den ersten deutschsprachigen Film, der sich diesem Thema widmet. Er könnte also als Auftakt für einen Fokus auf das Thema betrachtet werden. Für eine weitere Beschäftigung könnten, bei aller Vorsicht, Menschen aus den verschiedenen gebildeten Untersuchungsausschüsse, denen teilweise Angehöriger verschiedener Lager angehören, geeignete Ansprechpartner_innen werden. Auch sollten Gruppen, die sich gegen jeglichen Nationalismus wenden wie die Autonomous Workers‘ Union dabei mehr Beachtung finden.

Der Film Lauffeuer wird im Laufe der nächsten zwei Wochen online verfügbar gemacht.

http://lauffeuer-film.de