Rosa Fava plädiert für eine rassismuskritische Erziehung nach Auschwitz in der Einwanderungsgesellschaft
Rezension in der analyse & kritik. Zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 605 / 19.5.2015
Von Johannes Spohr
Die Erinnerung an den Nationalsozialismus und die Shoah hat in Deutschland seit 1990 eine immense Aufwertung erfahren. Die einst dominierende Verdrängung ist zumindest auf politisch-repräsentativer Ebene einer Indienstnahme für nationale Identifikation gewichen. Die Anerkennung der nationalsozialistischen Verbrechen ist in einigen gesellschaftlichen Sphären längst zur Grundlage politischen Handelns geworden. Immer häufiger ist statt trotz Auschwitz wegen Auschwitz zum Credo einer selbstbewussten Nation geworden. Diesen Prämissen folgend hat sich auch in den Erziehungswissenschaften ein Diskurs entwickelt, der Gegenstand der rassismuskritischen Analyse »Die Neuausrichtung der Erziehung nach Auschwitz in der Einwanderungsgesellschaft« von Rosa Fava ist.
Jetzt ist ihre Dissertation im Metropol-Verlag erschienen. Fava untersucht darin diverse theoretisch-konzeptionelle Überlegungen, Praxisberichte, empirische Studien und Konzepte für die Praxis von Lehrenden, die sich mit dem Bildungsauftrag »Nationalsozialismus« in Deutschland befassen. Ihnen gemeinsam ist die Annahme, die Einwanderung nach Deutschland stelle die Erziehung nach Auschwitz vor neue Herausforderungen. Auf dieser Grundlage hat sich ein Diskurs entwickelt, dessen Themen, Topoi und Argumentationsmuster Fava herausarbeitet.
Zu den Werkzeugen ihrer rassismuskritischen Diskursanalyse gehört die Kritik des Othering. Der Begriff Othering (deutsch etwa: zu Anderen machen) beschreibt den Prozess, mit dem aufgrund von tatsächlichen oder imaginären Merkmalen in Eigene und Andere unterteilt wird. Mit der Distanzierung von der Gruppe derAnderen wird immer auch die Normalität der eigenen Gruppe bestätigt. In dem von Fava untersuchten Diskurs sieht das in der Regel etwa so aus: In Deutschland definiert sich die Mehrheitsgesellschaft darüber, die NS-Verbrechen anzuerkennen und aufzuarbeiten. Zu ihrer Grundlage wird die biologische Herkunft von den »Tätern«, durch die unweigerlich ein Interesse an der NS-Geschichte entstünde. Dabei findet eine Homogenisierung statt, durch die beispielsweise jüdische Deutsche und Widerständler_innen und deren Nachfahren ausgeschlossen werden. Zudem werden als Migrant_innen empfundene Menschen zu einer »Herausforderung«, weil ihnen der familiäre Bezug zum Nationalsozialismus und daher das »natürliche« Interesse fehle.
Oft zitiert: »Hitler ist euer Problem, nicht unseres!«
Untermalt wird dies häufig mit der zitierten Aussage von Schüler_innen: »Hitler ist euer Problem, nicht unseres!« Auf dieses »Problem« müsse die Pädagogik reagieren. »Paradoxerweise, aber gemäß den Mechanismen des Othering«, so Fava, »wird bei Migranten vermisst, was tatsächlich (auch) bei Deutschen als Defizit besteht«. Es bleiben also immer die Anderen, die etwas nicht leisten. Fava zeichnet nach, wie das Verhältnis zum Nationalsozialismus bei einigen zum Disziplinierungsmoment wird, andere Antisemitismus als Folge von Einwanderung betrachten und wiederum andere eine »völkisch fundierte nationale Unterscheidung zwischen den Lernenden« (re)produzieren. Alternativ wird oft davon ausgegangen, Migrant_innen könnten sich aufgrund der ihnen zugeschriebenen Erfahrungen mit Krieg, Flucht und Rassismus der Mehrheitsgesellschaft besser in die historische Situation der Verfolgung einfühlen. Gleichzeitig werden Erziehende fast nie als potenzielle Migrant_innen gesehen und aus der Analyse ausgeklammert.
Rosa Fava bringt in ihrer Analyse Diskurse zusammen, die meist bezugsarm oder gar bezugslos nebeneinander stehen: den um eine Erziehung nach Auschwitz bemühten und einen rassismuskritischen, teils postkolonialen. Mit großer Präzision arbeitet sie die oftmals kritische Konstellation und die Lücken in diesen Diskursen heraus.
Das Selbstbild der als deutsch definierten Gemeinschaft als erfolgreiche »Aufarbeitungsgemeinschaft« trägt teils ähnlich paradoxe Züge wie der Verweis auf die Gefahr, deren Erfolge könnten von als Migrant_innen definierten Menschen untergraben werden. So werden nicht nur die Unterschiede zwischen DDR- und BRD-Sozialisation vernachlässigt, sondern auch die vielen unterschiedlichen familiären Hintergründe in Deutschland. Stellenweise hätte die Sichtbarmachung des Othering bei Fava durchaus humoristisches Potenzial, wäre ihr Gegenstand nicht so ernst. Etwa, wenn das Begegnungsprojekt Mipgash berichtet, ein »großer breitschultriger Jugendlicher« habe sich nach einem Gespräch mit einem »körperlich nicht beschriebenen Holocaustüberlebenden« für dessen Kommen bedankt, nachdem er sich zuvor »abfällig«, aber auch »mit Neugier« geäußert habe. »Die Ängste«, so Fava, »der körperlich ebenfalls unmarkierten Pädagog_innen vor »physischen oder psychischen Übergriffen« sind angesichts der Betonung der maskulinen Erscheinung auch als Sorge vor pädagogischem Status- und Kompetenzverlust erkennbar.
Die Studie wirft unweigerlich die Frage auf, wo eine Pädagogik ansetzen sollte, die nicht auf nationalen und völkischen Kategorien aufbauen möchte. Eine Prägung der Lernenden durch diese Kategorien, ihre Übernahme und auch entsprechende Selbstzuschreibungen bleiben schwierige Herausforderungen für Pädagog_innen. Sie zu ignorieren, Differenzen also einzugemeinden, wäre in der Wirkung kaum minder fatal als die genannten Zuschreibungen. So wichtig die Anerkennung von Differenzen ist, so wichtig sind Verallgemeinerungen als heuristisches (erkenntnisförderndes) Mittel, um überhaupt in Kommunikation treten zu können.
Die meisten Deutschen sind für den »Schlussstrich«
Darüber hinaus besteht in Deutschland eine deutliche Kluft zwischen dem staatsoffiziellen Selbstbild der »Deutschen« und unterschiedlichen Gruppen in der Bevölkerung. Von einem mehrheitlich und dominant vertretenen Selbstbild der Auschwitz anerkennenden »Aufarbeitungsgemeinschaft« ist keinesfalls auszugehen. Einer vor Kurzem veröffentlichen Studie der Bertelsmann-Stiftung zufolge wollen 58 Prozent der in Deutschland Befragten definitiv den berühmten »Schlussstrich« ziehen. Gesehen werden muss auch, wie die Beschäftigung mit der Geschichte der DDR die Aufarbeitung des Nationalsozialismus verdrängt oder wie die Shoah relativierend in die »Schrecken des 20. Jahrhunderts« eingereiht wird.
Offen bleibt in Favas Studie die Frage, inwieweit familienbiografische Hintergründe überhaupt in NS-Pädagogik einfließen sollten. Die Autorin kommt entgegen ihrer ursprünglichen Erwartungen zu dem Schluss, dass sich durch das Othering eher die eigene Gruppe selbst definiert als die der Anderen. Es handelt sich dabei also um Selbstvergewisserung und Projektion im Angesicht vieler Unsicherheiten. Daraus ließe sich schlussfolgern, dass die diskursmächtige Gruppe sich vielmehr mit den eigenen Unzulänglichkeiten als mit denen der vermeintlichen Anderen beschäftigen sollte. Der beschriebenen Herausforderung an die Erziehungswissenschaften setzt Fava also eine ganz andere Herausforderung entgegen: die einer immanent rassismuskritischen Grundlage gerade in der pädagogischen Praxis, die sich mit dem Nationalsozialismus beschäftigt.
Johannes Spohr stellte in ak 596 zwei Bücher über das Ghetto und Konzentrationslager Theresienstadt vor.
Rosa Fava: Die Neuausrichtung der Erziehung nach Auschwitz in der Einwanderungsgesellschaft. Eine rassismuskritische Diskursanalyse. Metropol Verlag, Berlin 2015. 397 Seiten, 24 EUR.