Täter, Mitläufer, Zuschauer: Immer mehr Enkel wollen wissen, welche Rolle ihre Großeltern im Nationalsozialismus eingenommen haben. Kämpften ihre Eltern noch mit Loyalitätskonflikten bei der familiären Spurensuche, können Junge freier fragen.
Radiobeitrag auf Deutschlandfunk von Melanie Longerich, zu dem ich ein Interview beisteuern durfte.
„Der war schon über 30 und
damit zum Kämpfen zu alt. Einen Führerschein hatten die wenigsten. Und
deshalb ist er als Kraftfahrer dieser Truppe zugeteilt worden, die im
Heeresbereich Mitte unterwegs gewesen ist, also im Mittleren Teil der
Sowjetunion. Also wieder die Anfrage ans Bundesarchiv Ludwigsburg. Haben
Sie was zur Geheimen Feldpolizei Nr. 1.“
Rechercheseminar in
der KZ-Gedenkstätte Neuengamme, im Osten von Hamburg. Zwei Mal im Jahr
organisiert das hiesige Studienzentrum Veranstaltungen dieser Art für
Nachkommen von Tätern und Mitläufern im Nationalsozialismus. Vor dem
Diaprojektor steht Archivar Reimer Möller und erklärt am Beispiel seines
eigenen Verwandten, wie man am besten vorgeht bei der
Familienrecherche. Möllers Verwandter war bei der geheimen Feldpolizei –
und bei dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion dabei, der am
22. Juni 1941 begann.
„Das ist die Gestapo der Wehrmacht und die ist belastet durch die Erschießung von Zivilpersonen“
Sowjetische Soldaten werden gezwungen, ihre eigenen Gräber auszuheben. Der Ort der Exekution ist unbekannt. Das Foto wurde bei einem toten Soldaten der Wehrmacht nahe Moskau gefunden. (imago images | Itar-Tass)
Rund 20 Teilnehmer hören zu – sie wollen auch herausfinden, wie sich ihre Großeltern in der nationalsozialistischen Diktatur verhalten haben, wo die Großväter im zweiten Weltkrieg gekämpft haben. Viele sind aufgewachsen mit einem diffusen Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmt. Dass es in der Familie Geheimnisse gibt. Archivar Reimer Möller zeigt, welche Informationen in welchen Archiven zu finden sind. Er deutet Fotos, kennt Kragenspiegel, Abzeichen, Orden.
Teilnehmerin: „Die Geheime Feldpolizei ist aber nicht der SD, der Sicherheitsdienst?“
Reimer Möller: „Ne, das sind Wehrmachtseinrichtung, in der Regel sind das Kriminalpolizisten oder Gestapo-Beamte, die zum Militär eingezogen wurden.“
Familiengeschichten voller Tabus
Der Journalist Niklas Frank hat sich sein Leben lang an seinem Erbe abgearbeitet. Sein Vater Hans Frank, NS-Gauleiter für Polen, war Hitlers Anwalt und Hauptkriegsverbrecher. (imago / WDR / Sven Simon)
„In
Deutschland ist der Holocaust Familiengeschichte“, hat der Historiker
Raul Hilberg einmal geschrieben. Doch auch 74 Jahre nach Kriegsende ist
das Wissen darüber oft verschüttet. Oliver von Wrochem leitet das
Studienzentrum der Gedenkstätte Neuengamme:
„Es gibt eine
großen Unterschied zwischen dem öffentlichen Gedächtnis in der
Gesellschaft, das relativ aufgeklärt ist, auch differenziert, auch in
der Forschung, auch in den Ritualen der öffentlichen Erinnerungskultur,
aber es gibt in der Familiengeschichte ganz viele Tabus und auch relativ
wenig Wissen, was die Verwandten im Nationalsozialismus getan haben.“
Nur wer die eigene Familiengeschichte kennt, könne die Wirkkraft des
NS-Systems nachvollziehen, erklärt Oliver von Wrochem – und auch den
derzeit erstarkenden Rechtsextremismus. Nur: Täterschaft und
Verantwortung sind nach Ansicht von Wissenschaftlern in den meisten
deutschen Familien bis heute kein Thema.
„Diese ganzen
Familiendynamiken und Familientradierungen sind sehr stabil. Also es ist
auch Nichtgesagtes, Nichtausgesprochenes trotzdem präsent. 30, 40, 50
Jahre ist nicht viel, wenn man darüber nachdenkt, was sind eigentlich
Bearbeitungen, Verletzungen, was machen Gefühle aus und wie werden die
in den Generationen weitertradiert.“
Verlesung
der Anklage vor der Spruchkammer II in Bayreuth am 25. Juni 1947: Der
Journalist Niklas Frank recherchierte zur Rolle seines prominenten
Vaters, der NS-Gauleiter in Polen war, sowie zu Lina Heydrich, Emmy
Göring, Winifred Wagner und zur Rolle seiner Mutter, Brigitte Frank.
(picture-alliance / dpa)
Die Sozialwissenschaftlerin Iris Wachsmuth forscht zur Tradierung von
NS-Vergangenheit in Ost und West. Vor einigen Jahren befragte sie für
ihre Doktorarbeit Familien in beiden Landesteilen – jeweils von der
Erlebnisgeneration bis zu den Enkeln. Sie wollte wissen, wie das
tatsächliche oder vermeintliche Verhalten während der NS-Zeit,
weitererzählt wird:
„Es ist auch schwierig und unbequem, sich Verantwortlichkeiten und Täterschaften und Mittäterschaften offen zu erzählen. Das ist schwieriges Terrain.“
Mehr Frauen und Westler besuchen Rechercheseminare
Walter Ulbricht auf einer Großveranstaltung in Ost-Berlin zur neuen Verfassung der DDR. Damals konzentrierte man sich auf Sozialismus und weniger mit der Vergangenheit des Nationalsozialismus. (picture alliance / dpa / ADN)
Rechercheseminare wie das in Neuengamme sind selten in Deutschland. Obwohl die stets ausgebucht sind, seien es gesamtgesellschaftlich gesehen nur wenige, die sich mit der eigenen Familiengeschichte beschäftigen, beobachtet Oliver von Wrochem. In die Seminare kommen mehr Frauen als Männer und mehr Westdeutsche als Ostdeutsche. Das liege möglicherweise daran,
„dass die DDR-Geschichte das überlagert hat, und sozusagen die Auseinandersetzung mit der DDR-Diktatur oder der Fragestellung, wie man sich in der DDR verhalten hat und wie das bewertet wird, ein bisschen stärker in Ostdeutschland im Fokus steht, weil damit auch immer eine Art Schuldzuweisung verbunden ist der Ostdeutschen. Weil man immer sagt, ‚Ihr habt eure DDR-Geschichte nicht richtig aufgearbeitet‘.“
Zwar gab es nach dem Krieg beiderseits personelle Kontinuitäten – und die wenigsten Täter wurden zur Verantwortung gezogen. Doch andere Erfahrungen waren grundverschieden: Die Ostdeutschen erlebten nach dem Ende des NS-Regimes die zweite Diktatur. Die DDR generierte sich als antifaschistischer Staat. Täterinnen und Täter? Waren offiziell alle im Westen. Da sei es doppelt schwer gewesen, offen über Verantwortung und Täterschaft zu sprechen.
„Die Entwicklung, die in Westdeutschland ja schon sehr prägend war mit der 68-er Generation und der kritischen Aufarbeitung der NS-Zeit, die davon angestoßen worden ist, und das gesellschaftliche Klima ja auch deutlich verändert hat, also in den 1970/80er Jahren, das kann man einfach nicht vergleichen. Während in der DDR war die Zeit ja ein bisschen stillgestellt auf einer Art und weil viele ja auch Opfer von Repressalien des Apparates waren und andererseits sich auch mit dem DDR-Regime arrangiert haben, ist da auch nochmals diese doppelte Geschichte in den Blick zu nehmen. Deswegen ist die Ausgangslage doch deutlich komplexer.“
Studentendemonstration 1968 in West-Berlin: Die 68-er Generation setzt sich im Westen kritisch mit der Aufarbeitung der NS-Zeit auseinander. (dpa / Konrad Giehr)
Doch
egal ob Ost oder West: Familienrecherche zur NS-Zeit ist längst kein
Hobby mehr von Rentnern. Immer mehr Angehörige der Enkelgeneration,
geboren zwischen 1960 und 1975, sind heute auf der Suche nach
Informationen über ihre Familien, beobachtet Archivar Reimer Möller. Und
in Neuengamme sitzt mittlerweile auch die Urenkel-Generation,
Anfang/Mitte 20:
„Das hat vielleicht mit dem historischen
Abstand zu tun, der inzwischen eben größer ist. Und das bedeutet, dass
die Erlebnisgeneration, also diejenigen, die das miterlebt haben als
Verfolgte, aber eben auch als Mitläufer, Zuschauer, Täter oder
Widerstandskämpfer, dass die nicht mehr die Geschichtserzählung so stark
bestimmen.“
Enkel wollen endlich Klarheit
Zeitzeugen im Geschichtsunterricht: Oswald Stein (links) und Lee Edwards berichten vor Schülern (2017) über ihre Kriegserlebnisse und die „Kindertransporte“ in der Nazi-Zeit (dpa/picture-alliance/Frank Rumpenhorst)
Das Sterben der Zeitzeugen stellt
Pädagogen vor große Herausforderungen – weil langfristig niemand mehr
aus eigener Anschauung wird berichten können. Eine andere Beobachtung
machen Historiker bei der Aufarbeitung von Täterbiografien. Dieser
Prozess scheint in vielen Familien erst jetzt richtig in Gang zu kommen:
„Das ist fast die Voraussetzung dafür, dass in den Familien
gesprochen wird. Bei den Nachkommen der Verfolgten ist das ganz anders,
weil diese Familien immer damit leben mussten, immer damit gelebt haben
mit ihrer Familiengeschichte und die war auch immer relativ
transparent.“
Doch wer Klarheit will, findet in der eigenen Familie selten Unterstützung.
„Weil es oft nur eine Person in der Familie ist, die Fragen stellt, die
anderen nehmen es in der Regel hin oder blockieren oder leisten auch
aktiven Widerstand.“
Kinder reagieren empfindlich auf das
Schweigen der Eltern, so dass zwei, inzwischen auch drei Generationen
durch eine „doppelte Wand“ getrennt werden, so hat das der israelische
Psychologe Dan Bar-On genannt. Die Eltern schweigen, und die Kinder und
Kindeskinder stellen keine Fragen. Die Sozialpsychologin Angela Moré von
der Leibniz-Universität in Hannover spricht von Loyalitätskonflikten:
„Die Eltern sind zwar Täter, aber es sind auch die eigenen Eltern.
Kinder sind auf ihre Eltern ja erst einmal auch angewiesen. Und es ist
ja wie ein Loyalitätsbruch oder wie ein Verrat wird das empfunden,
plötzlich aufzudecken, der Vater hat das und das getan.“
Auch
lang zurückliegendes Leid kann über Generationen hinweg wirken. Dieses
emotionale Erbe wird nicht nur über Erziehungsstile und Bindungsmuster
weitergegeben, sondern möglicherweise auch über die Gene. Seit einiger
Zeit untersuchen Wissenschaftler, ob traumatische Erlebnisse die Gene
verändern können. Diese sogenannte Epigenetik ist noch ein sehr junges
Fachgebiet.
„Auch wenn es stimmt, dass es genetische
Veränderungen gibt, wird es nichts ändern an dem Thema Aufarbeitung von
Familiengeschichte, sich da einen ehrlichen Zugang zu schaffen.“
Ein
Panzerfahrzeug der Wehrmacht, gefolgt von Soldaten auf Motorrädern, in
der Stadt Minsk während des Rußland-Feldzuges im August 1941.
(picture-alliance / dpa / UPI)
Sagt die Sozialwissenschaftlerin Iris Wachsmuth. Doch überhaupt erst
einmal herauszufinden, was wirklich war, ist für Angehörige der
Enkelgeneration oft nicht leicht. In den Erzählungen der Familien wurden
aus Tätern häufig Opfer. Das Bielefelder Institut für interdisziplinäre
Konflikt- und Gewaltforschung hat im Auftrag der Stiftung „Erinnerung,
Verantwortung und Zukunft“ eine Studie erstellt, die zeigt, wie sehr
Erinnerung von Familiengeschichte geprägt ist. Fast 70 Prozent der
Befragten verneinten, überhaupt NS-Täter in der eigenen Familie zu
haben:
„Der Mensch erfindet gerne Geschichten, die für ihn erträglicher sind
als die Wahrheit. Dann hat man keine Verantwortung mehr – und es geht um
sehr tiefsitzende – ich denke Mal, die Schuldgefühle sind noch an der
Oberfläche, es geht um sehr tiefsitzende Schamgefühle, die abgewehrt
werden. Kinder schämen sich auch ihrer Eltern, wenn die etwas
Verbrecherisches getan haben.“
Schweigen als Selbstschutz. Angela Moré:
„Wir alle brauchen, um ein Weltvertrauen zu haben, ein Gefühl, die Menschen, die wir lieben, sind zuverlässige Menschen, sind gute Menschen. Deshalb sind ja auch Kinder von Tätern, wenn sie das anerkennen, entwickeln häufig schwere psychische Störungen, also Depressionen, ein Gefühl von Sinnlosigkeit des Lebens usw.“
Gesellschaftliche Reaktionen überraschten
„Ich
hab diese Diskrepanz nicht, die viele immer beschreiben, dass sie den
mordenden Familienvater und den liebenden Familienvater nicht
zusammenbringen können oder den mordenden Soldaten in Osteuropa und den
liebenden Familienvater, weil ich das immer eher als was betrachte, was
auch zusammengehört. Wenn man von dieser Ideologie der Volksgemeinschaft
tatsächlich auch überzeugt ist, dann passt das irgendwie.“
Johannes Spohr verbrachte als Kind seine Ferien oft bei den Großeltern
in der niedersächsischen Kleinstadt Nordenham. Der 37-jährige Historiker
erinnert sich an „Mein Kampf“ im Bücherregal und an die
Wehrmachtsuniform im Schrank. Nach dem Tod seines Großvaters Rudolph
Spohr, 2006, beschäftigte er sich intensiv mit dessen Vergangenheit. Das
Besondere: Seine Mutter unterstützte ihn. Das Schweigen der Täter hält
er für einen Mythos:
„Die haben ganz viel gesprochen, in der
Nachkriegszeit schon, die haben sich, wie mein Großvater, sich zum
Beispiel in Verbänden der Kriegseinheiten getroffen, haben darüber
geredet.“
Das Bild, dass Spohrs Großvater von sich zeichnete,
war das eines Kriegsgegners, der sich lange geweigert, aber
schlussendlich keine andere Wahl gehabt habe, als Soldat zu werden.
Heute weiß sein Enkelsohn, dass der Großvater 1940 zunächst auf den
Überfall auf Frankreich beteiligt war und dann zum Oberkommando des
Heeres kam, wo er Karriere machte. Ab 1942 war er als Ordonnanzoffizier
in verschiedenen Teilen Ostereuropas unterwegs – unter anderem in der
Ukraine:
„Er war an sehr vielen Orten, an denen Verbrechen
passiert sind, also er war zum Beispiel in dem Ort Winnycja, zu dieser
Zeit wurden dort 10.000 Juden und 5.000 Kinder erschossen, ich weiß aber
nicht, ob er zur Tatzeit am Tatort war.“
Ausgrabungsfunde
zu NS-Verbrechen: Schuhe, Besteck, Münzen, Kleidungsteile von Opfern,
aber auch Munition und Täter-Werkzeuge (dpa-Bildfunk / Bernd Thissen )
Doch Johannes Spohr geht es heute gar nicht mehr so sehr um den eigenen
Großvater. Ihm geht es um die gesellschaftlichen Reaktionen. So habe es
in der Heimatstadt seines Großvaters in Nordenham, eine heftige
Diskussion gegeben, nachdem die Lokalzeitungen über die Suchergebnisse
des Enkels berichtet hatten. Der Großvater Rudolph Spohr hatte nach dem
Krieg in Nordenham die Goethe-Gesellschaft gegründet, genoss hohes
Ansehen in der Stadt. Nun warfen viele dem Enkel vor, er wolle sich auf
Kosten des toten Großvaters profilieren:
„Ich glaube tatsächlich, dass es eigentlich um die Bilder ging, die
aufgetaucht sind, also in einer der großen Zeitungen der Stadt war das
Bild meines Großvaters als stolzer Soldat in seiner Uniform. Und ich
glaube, schon dieser Anblick hat vielen nicht gepasst, weil der
automatisch eine gewisse Anklage beinhaltet und das beunruhigt.“
Der östliche Kriegsschauplatz: Auf einmal war er mitten in Nordenham.
Dabei haben vermutlich viele Familien ähnliche Bilder in den Schubladen.
Eine Normalität in Deutschland, die noch immer oft verdrängt werde:
„Das ist die Gefahr an der Debatte, dass man aufhört, öffentlich
darüber zu reden und egal, was andere machen oder nicht machen, ist –
glaub ich – das, was gar nicht geht, dass man schweigt und das
fortführt, und das eben auch vermeintlich in dem Sinne, dass man über
Toten nicht schlecht sprechen soll.“
Erlösung gibt es nicht
Derzeit
macht Johannes Spohr Pause von seinem Großvater. Er schreibt seine
Doktorarbeit. Irgendwann wird er weitersuchen. Denn so eine Recherche
entfalte durchaus Sogwirkung, erzählt er. Man müsse aufpassen, dass eine
solche Suche nicht zum Selbstzweck werde. Der Opa ein Nazi – der Enkel
der Gutmensch, der alles ans Licht bringt. So einfach aber sei das
nicht. Es gibt keine Erlösung:
„Und das ist eine Tendenz, die
ich in den letzten 15 Jahren ausmache im erinnerungspolitischen Diskurs
in Deutschland. Dass Leute eben sehr gerne immer Opfer sein möchten vom
Bombenkrieg oder von Flucht und Vertreibung usw. Und das kann sich eben
auch fortführen in dem man sagt: ‚Ich bin eben auch Opfer, weil mein
Großvater ein Nazi war, weil ich darunter leide.‘ Und das ist eine
Gefahr. Wenn man unter etwas leidet, hat das immer eine Berechtigung,
aber es ist dann die Frage, tritt man damit in die Öffentlichkeit oder
sagt man: ‚Ja, ich weiß, dass ich Täter-Nachfahre bin und ich möchte,
dass das so stehen bleibt‘.“
„Was jetzt noch wichtig ist, und
was so schwierig ist für die meisten Kriegsenkel, ist dass die
Kriegsenkel sich häufig nicht verstanden fühlen von den Kriegskindern.“
Die
Journalistin Sabine Bode setzt sich in ihren Büchern „Kriegsenkel“ und
„Die vergessene Generation“ mit dem schwierigen Erbe der
Nachkriegsgeneration auseinander. (Marijan Murat)
In Köln hat der Verein Kriegsenkel e.V. zum Einsteigerseminar geladen.
Deutschlandweit bietet der Verein Seminare an – sie sind stets
ausgebucht. Es geht um die Vererbung von Traumata, um psychologische
Hilfsangebote, ums Vernetzen. Die meisten Teilnehmer sind aufgewachsen
in einer Zeit von Frieden und Überfluss – und sind dennoch geprägt von
Flucht und Vertreibung, von Bombennächten, die ihre Eltern erlebt haben.
Kursleiterin Iris Wangermann erzählt von einenden Erfahrungen:
„Existentielle Brüche, ganz viel, also dass man immer wieder Dinge
abbricht oder Beziehungen abbricht oder Wohnorte abbricht, das aber
nicht versteht, aber man kommt aus dem Kreislauf nicht raus, viele
fühlen sich entwurzelt, rastlos getrieben, viele stehen auf der Bremse,
viele fühlen große Leere, fühlen keine Zufriedenheit.“
Die Teilnehmer nicken bestätigend. Es tut gut, nicht mehr allein zu
sein. Doch woher kann man wissen, dass die persönlichen Probleme
wirklich mit den Kriegserlebnissen der Eltern und Großeltern
zusammenhängen?
„Da muss jeder selber gucken. Für mich ist es nur
wichtig, wenn ich sage: ‚Ich hab da ein Problem, da gibt es so einen
Teufelskreislauf, aus dem ich nicht aussteigen kann und ich möchte
aussteigen‘, dann finde ich es wichtig, sich da auf die Suche zu machen
und Lösungen zu finden.“
So sieht das auch Kursteilnehmerin
Edeltrud Hansen. Die 58-Jährige engagiert sich in der ehrenamtlichen
Hospizarbeit. Dort begleitet sie Sterbende, die den Krieg als Kind noch
miterlebt haben. Vieles aus der Zeit kommt am Lebensende noch einmal
hoch. Ein Grund, sich mit ihrer eigenen Kindheit zu beschäftigen:
„Ich sehe mich durchaus nicht als Opfer. Sondern es geht mir darum, meine Biographie in einen sinnhaften Kontext zu stellen und die Geschichte zu verstehen, weil mir meine Familie keinen Zugang zu einer Geschichte ermöglicht hat. So, also es gab den Krieg und nach dem Krieg war das große Nichts. Und wenn man über Geheimnisse nicht sprechen darf, kann man überhaupt nichts Wesentliches thematisieren.“
Mystifizierung statt Verantwortung
Deutsche Soldaten in einem Graben bei der Schlacht um Stalingrad (dpa)
Edeltrud
Hansen ist in einem Dorf in der Eifel groß geworden. Die Stimmung in
ihrer Familie sei kalt gewesen: bindungslos, lieblos, freudlos. Im Haus
wohnten Eltern, Geschwister, die Großmutter, und die Brüder des Vaters.
Die waren im Zweiten Weltkrieg an der Ostfront gewesen. Immer wieder sei
erzählt worden, dass eine Ärztin einem von ihnen in russischer
Kriegsgefangenschaft die Blutgruppen-Tätowierung am Oberarm entfernt und
ihm so das Leben gerettet habe. Denn die Tätowierung hätte seine
Zugehörigkeit zur Waffen-SS offenbart.
„Diese Mystifizierung
meines Onkels auch, es war eine Ärztin im Gefangenenlager, die ihn vor
den bösen Russen bewahrt hat. Die Deutschen, auch die im Krieg gedient
haben, im Nachhinein waren auch sie die Opfer. So einfach ist die
Geschichte nicht.“
Der Begriff „Kriegsenkel“ aber scheint genau diese Opferhaltung zu bedienen. Weil er eben die Zeit von 1939 bis 1945 ins Zentrum stellt. Oliver von Wrochem von der Gedenkstätte Neuengamme:
„Ich denke, wenn man auf die historische Epoche zurückschaut, muss man mit dem Jahr 1933 anfangen und auch der Zustimmung zum NS-Regime, der Volksgemeinschaft und den Fragen der Beteiligung auch an Verbrechen, die vor dem Zweiten Weltkrieg begangen worden sind.“
Postkarte zum Ehrentag der Sächsischen SA Dresden, 1934 (picture alliance / arkivi)
Seminarleiterin Iris Wangermann vom Verein Kriegsenkel e.V. hält dagegen:
„Wenn
es dazu beiträgt, dass sich Menschen verbinden und Menschen sagen: ‚Ich
interessiere mich für das Thema, ich gucke mir da was an und möchte das
für mich auflösen‘, dann ist mir das egal. Natürlich sind wir
Täterenkel, ja genau. Aber was mache ich denn jetzt damit?“
„Wenn man jetzt auf die aktuellen Entwicklungen schaut, kann man schon
auch sagen, dass das Erstarken von Geschichtsrevisionismus,
Antiziganismus, Antisemitismus und überhaupt Kontinuitäten der
Ausgrenzung eben auch die Ursache haben, dass man den
Nationalsozialismus in seiner Tiefendimension und seiner Einwirkung auf
die Familien und Verankerung auf die Einzelpersonen eben gar nicht
durchdrungen und aufgearbeitet hat.“
Für Oliver von Wrochem ist
klar: Wenn sich Menschen mit der Geschichte ihrer Familien
auseinandersetzen, dann beschäftigen sie sich auch mit der Bedeutung des
Nationalsozialismus. Die Vergangenheit ragt in die Gegenwart hinein –
und wird relevant für die Demokratie heute:
„Natürlich ist das kein Allheilmittel, sondern nur eine von vielen Dimensionen.“
Vor
den herannahenden Truppen der Roten Armee flohen im Winter 1944/45
große Teile der ostpreussischen Bevölkerung aus dem Samland und um die
Stadt Königsberg über das zugefrorene Frische Haff in Richtung Danzig.
(picture alliance / dpa / Krause)
Dieser Meinung ist auch die Sozialwissenschaftlerin Iris Wachsmuth.
Allerdings sind in Deutschland längst neue Familiengeschichten
hinzugekommen, die das Thema aktuell halten.
„Die auch als Nichtdeutsche auf die Geschichte gucken, sich dazu
verhalten. Das ist glaube ich auch gerade in der Gesellschaft gerade
ziemlich virulent, dass Menschen mit ihren Fluchterfahrungen, dass da
auch etwas triggert in den zweiten und dritten Generationen, wenn sie
sich mit diesen Menschen auseinandersetzen, da gibt es viel Bewegung
gerade.“
Familiengeschichten in Deutschland werden vielfältiger – und ständig
kommen neue hinzu. Sie prägen alle auf ihre Weise die deutsche
Gesellschaft. Und – darin sind sich die Wissenschaftler einig – ihnen
nachzuforschen, schärft das Bewusstsein für historische und politische
Zusammenhänge.