Essay in der Jungle World vom 26.3.2020:
Der gegenwärtige neonazistische Terror erinnert an vieles, was aus der Zeit des Nationalsozialismus dokumentiert ist. Wie weit dürfen HistorikerInnen gehen, wenn sie Analogien ziehen?
Von Johannes Spohr
»Es war, als ob sich ein leerer Raum um einen bildete«, erinnerte sich die Philosophin Hannah Arendt während eines Interviews 1964. Sie beschrieb das Versagen der nichtjüdischen Freundinnen und Freunde nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten 1933. Am 1. April kam es in Deutschland zum Boykott jüdischer Geschäfte. 37 000 Jüdinnen und Juden verließen Deutschland, andere entschieden sich zu bleiben, darunter der Hochschullehrer Victor Klemperer. Er hoffte zunächst auf den Widerstand gegen die Nazis. Als ehemaliger Frontkämpfer im Ersten Weltkrieg fiel er außerdem unter eine Ausnahmeregelung des »Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« und konnte seine Lehrtätigkeit vorerst fortsetzen. Doch Klemperer wurde in seiner Arbeit immer weiter eingeschränkt und geriet zudem in soziale Isolation. Seine Tagebücher schildern nicht nur staatliche Verfolgung, sondern auch, dass in seinem Umfeld Solidarität ausblieb.
»Deutschland, du hast ein Naziproblem. Denn eine Entnazifizierung nach 1945 hat es nicht gegeben.« Ferat Koçak (Linkspartei)
Nach den Anschlägen von Hanau gebrauchten Angehörige der Ermordeten, Betroffene und viele derjenigen, die ebenfalls gemeint waren, Worte, die an Arendts Metapher vom »leeren Raum« erinnern. Von der »Leere nach den Schüssen« schrieb die Journalistin Mely Kiyak kurz nach dem Anschlag in Hanau in der Zeit: »Man kann gegen Terror nicht zusammenstehen, er ist ein Symptom der gesellschaftlichen Spaltung.« Bereits zuvor hatte Kiyak in ihrer Kolumne wiederholt ausgedrückt, wie tief das Verhalten der deutschen Mehrheitsgesellschaft und deren mangelnde Empathie mit den vom Rassismus der extremen Rechten bedrohten Minderheiten sie verunsicherten.
Wenn man sich als Historikerin oder Historiker vornehmlich mit dem Nationalsozialismus und seinem Fortwirken beschäftigt, fiel es einem im vergangenen Jahr oft schwer, professionelle Distanz zum Untersuchungsgegenstand zu wahren. Immer häufiger drängten sich historische Assoziationen wie diese auf. Manche Dokumente aus der Zeit des Nationalsozialismus erinnern auf verstörende Art an Nachrichten über gegenwärtige neonazistische Umtriebe – und andersherum. Aber welche Rückschlüsse lassen sich aus diesen Assoziationen ziehen? Besteht nicht gerade für Historikerinnen und Historiker die Gefahr, dass Analogien den Erkenntnisgewinn der eigenen Forschung untergraben? Droht nicht gar eine Relativierung der nationalsozialistischen Terrorherrschaft?
Allein unter Deutschen
»Ich glaube, das Schrecklichste für mich heute war, dass ich keinen Moment sagen konnte, dass ich verwundert bin oder überrascht oder entsetzt«, sagte die Performancekünstlerin und gebürtige Hanauerin Simone Dede Ayivi dem Videokollektiv Leftvision. Vielen Menschen, mit denen sie gesprochen habe, gehe es genau so. Nicht ob ein Anschlag wie in Halle oder Hanau sich wieder ereigne, sei die Frage, sondern: »Wer stirbt als nächstes und wie viele werden es sein?«
Welten liegen zwischen der heutigen Situation in der Bundesrepublik und jener in der Ukraine unter deutscher Besatzung im Zweiten Weltkrieg. Und doch kann es vorkommen, bei den obigen Worten an Berichte von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen zu denken, die diese Besatzung von 1941 bis 1944 wie auch ihre Folgen erlebt haben. Häufig schildern sie, dass sie nach über einem Jahr deutscher Herrschaft nicht mehr überrascht waren über die Gewalt der Wehrmacht, der SS und der Polizei, die die Bevölkerung terrorisierten und Dörfer niederbrannten. Oft flohen die Einwohnerinnen und Einwohner bereits beim Herannahen der Truppen in die Wälder, weil sie aus Erfahrung wussten, was zu erwarten war.
Die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen in der Ukraine wissen auch, dass die Nationalsozialisten nicht durch ihre politische Anerkennung aufgehalten wurden, sondern erst durch die sowjetische Armee und – wenn auch in geringerem Umfang – durch den Kampf der Partisaninnen und Partisanen. Es gehört zu den beunruhigenden, aber wichtigen Erkenntnissen, dass »Wir sind mehr« auch heutzutage weder ein Argument gegen Faschismus darstellt noch die rechten Gewalttäter beeindruckt. Die Überzeugten unter ihnen werden stets alle Möglichkeiten nutzen, die ihnen zur Verfügung stehen, und Gewalt ausüben.
Immer wieder Thüringen
Die Historikerin Swantje Greve hat in ihrem 2019 erschienenen Buch »Das ›System Sauckel‹« die Organisation der Zwangsarbeit in der Ukraine unter deutscher Besatzung untersucht. Sie schreibt über Fritz Sauckel, der als »Generalbevollmächtigter für den Arbeitseinsatz« für die millionenfache Deportation von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern verantwortlich war, es sei eine Perspektive notwendig, »die weniger seine charakterlichen Eigenschaften als vielmehr das Netz von Beziehungen in den Fokus rückt, in das er eingebunden war«. Denn, so erläutert Greve, der Gauleiter Sauckel war Teil eines »Thüringer Netzwerkes«, das sich zwischen den zwanziger Jahren und 1942 herausgebildet und etabliert hatte. Aufmerksame Leserinnen und Leser in Deutschland lenkt Greve geradezu zwangsläufig zu einem Bezug auf die Gegenwart – wer denkt inzwischen nicht bei einem solchen Netzwerk in Thüringen sofort an den NSU, der aus der Neonazigruppe »Thüringer Heimatschutz« hervorging?
Nicht erst seit der Selbstenttarnung des NSU im Jahr 2011 fordern Organisationen von Betroffenen und Angehörigen immer wieder, sich bei der Aufarbeitung nicht auf sogenannte Einzeltäter zu konzentrieren, sondern die regionalen, überregionalen und mitunter sogar internationalen Netzwerke von verantwortlichen Neonazis genau zu untersuchen. Auch das zivilgesellschaftliche Tribunal »NSU-Komplex auflösen« hat immer wieder betont, die Geschichte des Neonaziterrors habe erwiesen, dass Täter individuell handeln und sich dennoch als Teil einer größeren Sache begreifen können – und somit nicht nur in ihrem eigenen Namen agieren. Und nachdem Thomas Kemmerich am 5. Februar 2020 mit den Stimmen der AfD zum Ministerpräsidenten Thüringens gewählt worden war, erinnerten Kritikerinnen und Kritiker daran, dass 90 Jahre zuvor, am 23. Januar 1930, der spätere Reichsinnenminister Wilhelm Frick als erstes NSDAP-Mitglied Minister in einer Landesregierung geworden war – in Thüringen, Sauckels späterem »Mustergau«.
Empathie kennt Namen
Wer sich mit verschiedenen Aspekten nationalsozialistischer Gewalt beschäftigt, fragt meist auch danach, ob und wie an diese Gewalt in der Nachkriegszeit erinnert wurde. Kaum jemand in Deutschland kennt heutzutage die Namen der größten abgebrannten Ortschaften und die Orte der Massenerschießungen von Jüdinnen und Juden in der ehemaligen Sowjetunion. Namen wie Berdytschiw, Kamjanez-Podilskyj oder Korjukiwka geht den meisten Deutschen ähnlich schwer über die Lippen wie die Namen Ferhat Unvar, Gökhan Gültekin, Hamza Kurtović, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Kalojan Velkov, Vili Viorel Păun und Fatih Saraçoğlu oder werden, wie der von Gabriele Rathjen, gleich wieder vergessen.
Dafür gibt es viele Gründe. Mit dem Gedenken wird es meist schwierig, wenn die Ebene politisch-repräsentativer Reden und ritualisierter Veranstaltungen verlassen wird und es sozusagen ans Eingemachte geht: Reparationen, Entschädigung oder das Aushalten des Geschehenen ohne jegliches Aber. Das Innehalten fällt mitunter auch deshalb schwer, weil es unangenehme Fragen aufwirft – nach der Gesellschaft, die die Mörder hervorbrachte und hervorbringt. Auch das weitgehende Vergessen ist ein Erfolg der Gewalt, und letztlich zieht sich von Korjukiwka bis Hanau eine bedrückende Kontinuität: die Empathieverweigerung gegenüber den Opfern. Der Schriftsteller Ralph Giordano, der dem nationalsozialistischen Terror entronnen war, bezeichnete den Unwillen breiter Teile der deutschen Öffentlichkeit, sich mit den NS-Verbrechen zu beschäftigen, als »zweite Schuld«. Ähnlich drückte sich Ferat Koçak, ein Politiker der Linkspartei und Betroffener einer Serie ungeklärter Brandanschläge in Berlin-Neukölln, am 22. Februar bei einer Demonstration in Hanau aus: »Deutschland, du hast ein Naziproblem. Denn eine Entnazifizierung nach 1945 hat es nicht gegeben.« Die Nazis seien bis in die Gegenwart in bestehenden Strukturen weiter gewachsen und nutzten auch Parlamente und Behörden aus.
Schrecken, Abscheu, Trauer und Verstörtheit können dazu motivieren, sich dem Verstehen der nationalsozialistischen Gewalt zu widmen, ohne sie verzeihen zu wollen.
In Hanau sprach auch Candan Özer Yılmaz, die Witwe von Atilla Özer. Dieser wurde 2004 beim rassistischen Nagelbombenanschlag des NSU in seinem Friseurladen in der Keupstraße in Köln schwer verletzt und starb 2017 an den Folgen. Candan Özer Yılmaz verwies auf historische Kontinuitäten: »Die Morde und die Anschläge passieren in eurem Land, das gehört zu eurer Geschichte.« Deutschland habe »in Bezug auf Rassismus versagt«, schlussfolgerte sie.
Nach dem Mord an dem CDU-Politiker Walter Lübcke habe man in dessen Partei Betroffenheit erwartet, eine Reaktion, die sich aus der Erkenntnis speise, man sei auch als Partei oder als Demokrat gemeint gewesen. Dass jedoch Bundeskanzlerin Angela Merkel nach Lübckes Tod von »bedrückenden Nachrichten« sprach und der Großteil der CDU schlichtweg schwieg, zeuge von einer sich durch die Generationen ziehenden »Unfähigkeit zu trauern«, wie Mely Kiyak mit Bezug auf das gleichnamige Buch von auf Margarete und Alexander Mitscherlich am 26. Juni 2019 der Zeit schrieb.
Historisierung und Vergegenwärtigung
Der Anschlag in Hanau weckt nicht nur Assoziationen zum Nationalsozialismus, sondern manchmal auch zur unmittelbaren Zeitgeschichte. Die grausame Bilanz von zehn Todesopfern einer einzelnen rassistischen Tat wurde vor Hanau bisher nur beim Brandanschlag in Lübeck vom 18. Januar 1996 erreicht. Damals verdächtigte die Polizei bei ihren Ermittlungen die Überlebenden des Brandes selbst als Täter, eine deutliche Parallele zu dem Umgang mit den Opfern des Nagelbombenanschlags in der Keupstraße und anderer rassistischer Anschläge der jüngeren Vergangenheit. Das Muster wiederholt sich in einer solchen Regelmäßigkeit, dass es kaum noch als Zufall abgetan werden kann.
Die zeithistorische Forschung widmet sich momentan verstärkt der extremem Rechten nach 1945. Erst vor kurzem behandelte eine Tagung in Potsdam »Kontinuitäten rechter Gewalt« und untersuche dabei Ideologien, Praktiken wie Wirkungen derselben. Wolfram Wette veröffentlichte in der Süddeutschen Zeitung einen »Warnruf eines Militärhistorikers«, in dem er eindringlich auf die Vorbilder rechter Netzwerke in der Bundeswehr und ihre Bezugnahme auf die Freikorps der Weimarer Zeit hinwies. Forschende auf diesen Gebieten werden auch in den kommenden Jahren mit dem Problem historischer Assoziationen konfrontiert sein. Dabei stoßen sie auch auf Beispiele erfolgreicher Gegenstrategien. Viele fragen sich momentan, was nun eigentlich zu tun sei angesichts der nicht enden wollenden Reihe rassistischer Vorfälle, an denen immer wieder staatliche Behörden und Beamte beteiligt sind (aktiv beteiligt, nicht »verstrickt«, wie es gerne bezüglich nationalsozialistischer Täter wie auch heutiger Verantwortlicher heißt).
Ein Vertreter der Initiative Ramazan Avcı sprach bei der Gedenkdemonstration in Hanau über die Notwendigkeit der Selbstorganisation gegen die rechte Bedrohung. Er verwies etwa auf Streiks in den neunziger Jahren in Hamburg als Reaktion auf rassistische Brandanschläge, die nicht nur von den »üblichen deutschen linken Organisationen und antifaschistischen Gruppen« getragen wurden. Die Veranstaltungen des Tribunals »NSU-Komplex auflösen« 2017 in Köln, 2018 in Kassel und 2019 in Chemnitz waren ein eindrucksvoller Versuch, Gerechtigkeit für die Opfer rassistischer Verbrechen unter Benennung der Ursachen einzufordern. Auch könnte es nützlich sein, sich ähnliche Versuche aus unterschiedlichen Ländern zu vergegenwärtigen. In Argentinien sorgten die Madres de la Plaza de Mayo dafür, dass die in der Militärdiktatur Verschwundenen nicht einfach vergessen werden konnten, indem sie deren Gesichter und Namen präsent hielten. Die Mütter treffen sich noch immer wöchentlich im Zentrum Buenos Aires, um diesem Anliegen Nachdruck zu verleihen. In Form der escrache, einer offensiven öffentlichen Anklage im Umfeld der Täter, demonstriert man in Argentinien gegen die Verantwortlichen für das Verschwindenlassen von rund 35 000 Menschen während der Militärdiktatur. »Wenn es keine Gerechtigkeit gibt, gibt es escrache«, hieß es auf vielen Demonstrationen, die vor den Wohnorten von Tätern stattfanden. Nach Hanau liegt auf der Hand, dass sich die Spur oft problemlos zu den geistigen Brandstiftern zurückverfolgen lässt.
Nicht zuletzt Überlebende der nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager haben sich in Deutschland immer wieder bei Protesten gegen die wieder erstarkende extreme Rechte engagiert, sei es, weil sie sich an die Vergangenheit erinnert fühlten, sei es aus übergeordneten politischen Überzeugungen, für die viele von ihnen bereits während des nationalsozialistischen Terrors verfolgt wurden. So sagte etwa Gertrud Müller, eine Überlebende des Konzentrationslagers Ravensbrück, auf einer Kundgebung gegen den Parteitag der rechtsextremen Partei »Die Republikaner« 2001 in Winnenden: »Man kann den Faschisten nicht entgegentreten, indem man ihre Forderungen aufgreift.« Nachdem immer wieder der Antifaschismus diffamiert wurde und bekannt geworden war, dass die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN-BDA) die Gemeinnützigkeit verlieren könnte, meldete sich jüngst auch Esther Bejarano, eine Überlebende des KZ Auschwitz-Birkenau, zu Wort: »Heute Antifaschist zu sein, bedeutet für uns, alles uns Mögliche zu tun, um nie wieder zuzulassen, dass Menschen verfolgt und ermordet werden, dass die Menschheit durch Kriege bedroht oder vernichtet wird.«
Über die Gegenwart lernen
Eine mögliche Reaktion auf die zitierten Assoziationen besteht darin, eine bestimmte historische Situation mit der Gegenwart zu vergleichen. Solche Parallelisierungen bergen die Gefahr, Vorgänge aus ihrem Zusammenhang zu reißen und alarmistisch zu überzeichnen und somit wenig zu einem besseren Verständnis beizutragen. Historische Vergleiche werden nicht selten gezielt eingesetzt, um die Gewalt des Nationalsozialismus zu relativieren und zu verharmlosen.
Assoziationen bieten dennoch die Möglichkeit, sich kritisch ins Verhältnis zur Gegenwart zu setzen. Sie helfen auch, auf die Fortsetzung historischen Unrechts aufmerksam zu machen, etwa ausbleibende Entschädigungen und Reparationen.
Bis heute stellt die kritische Forschung zum Nationalsozialismus ein Korrektiv zu den jahrzehntelang von alten Nazis verbreiteten Mythen und dem jahrzehntelang währenden öffentlichen Schweigen dar. Auch zu den Versuchen der Neuen Rechten, den Nationalsozialismus zu verharmlosen und eine völkische Geschichtspolitik zu etablieren, kann sie sich kaum gleichgültig verhalten. Zudem kommen Historikerinnen und Historiker schwerlich umhin, sich mit dem Fortleben von Ideologien und auf ihnen begründeter Gewalt zu befassen. Nicht aus der Geschichte lässt sich so lernen, sondern über die Gegenwart.
Dem eigenen Material sollte man als Historikerin oder Historiker nicht erliegen oder anheimfallen. Wenn die – durchaus notwendige – professionelle Distanz herausgefordert wird, können Schrecken, Abscheu, Trauer und Verstörtheit mitunter dazu motivieren, sich verstärkt der Vergegenwärtigung und dem Verstehen der nationalsozialistischen Gewalt zu widmen, ohne sie verzeihen zu wollen. Es ist ein kleiner Beitrag zu einer kritischen – und niemals beruhigenden – Auseinandersetzung, den die Beschäftigung mit der Geschichte leisten kann.