Interview in der Tagungszeitung »Neues Deutschland« vom 4. Januar 2021:
Der Historiker Johannes Spohr über sein Rechercheprojekt zur NS-Verstrickung von Familien und Gesellschaft
Warum ist 75 Jahre nach Ende des Nationalsozialismus ein Recherchedienst mit diesem Schwerpunkt auf Familien und Gesellschaft noch notwendig?
Konkretes Wissen über das Handeln der eigenen Vorfahren, Vereinsmitglieder oder Kolleg*innen während des Nationalsozialismus ist bis heute eher die Ausnahme. Viele sind mit Auslassungen oder Mythen über diese Zeit aufgewachsen. Dass sich heutzutage überproportional viele Menschen in der Bundesrepublik als Nachfahren von Opfern des Nationalsozialismus betrachten, basiert meist eher auf Gefühlen als auf Faktenwissen. Recherchen können hier unter Umständen als Korrektiv wirken. Sie können ein Weg sein, sich mit sich selbst, seinem Umfeld, aber auch mit gesellschaftlichen Fragen der Gegenwart auseinanderzusetzen – sofern denn entsprechende persönliche Bezüge bestehen. Ich würde die politische Bedeutung individueller Recherchen nicht überbewerten, denke aber, dass ihr in ihrer Summe ein emanzipatorisches Potenzial innewohnen kann. Ein besonderer Gegenwartsbezug ergibt sich aus der zunehmenden rechten Agitation im Bereich der Erinnerungskultur. Historische Erkenntnisse sind niemals fix, sondern stets umkämpft.
Wer sind die Zielgruppen der Recherche?
In erster Linie richtet sich mein Angebot an Menschen der zweiten, dritten und vierten Generation, die zu ihren Familienangehörigen forschen möchten. Aber auch Vereine, Firmen und Freundeskreise können eine Recherche in Auftrag geben. Einige stehen ganz am Anfang ihrer Suche, während andere bereits Vorwissen und Erfahrung mitbringen. Manchmal beschäftigte ich mich umfassend mit einer Person, manchmal aber auch nur mit Teilaspekten, bei denen die Recherchierenden nicht weiterkommen. Dies kann etwa der Fall sein, wenn Dokumente in osteuropäischen Archiven vermutet werden.
Recherchieren Sie nur NS-Bezüge?
Meine eigene Expertise liegt im Bereich der NS-Täterschaft. Das heißt aber nicht, dass ich mich zwangsläufig nur darauf beschränke. Dies ist auch nicht immer möglich, weil Biografien eben komplex sein können. Häufig ist meinen Kund*innen wichtig, vorhandene Dokumente besser einordnen zu können. Dabei unterstütze ich sie nach meinen Möglichkeiten.
Welche Probleme treten auf, wenn sich die vierte Generation, die ihre Vorfahren mit NS-Vergangenheit nicht kennt, mit der Geschichte befasst?
Die Situation erscheint paradox: Einerseits haben Angehörige der vierten Generation meist keine unmittelbaren persönlichen Bezüge mehr zu ihren Vorfahren, die die Zeit zwischen 1933 und 1945 aktiv erlebt haben. Das Interesse muss dadurch aber nicht automatisch sinken. Manchmal ist das Ableben der »Erlebnisgeneration« auch gerade die Voraussetzung dafür, offener über deren eventuelle Beteiligung an NS-Verbrechen zu sprechen – Abhängigkeiten und Loyalitäten verringern sich. Die Möglichkeiten zur Archivrecherche sind jedenfalls besser denn je und auch über eventuelle Sperrfristen müssen sich die Jüngeren keine Gedanken machen. Interviews kommen heutzutage natürlich fast nur noch mit Nachfahren in Frage.
Was ist Ihr Bezug zum Thema?
Ich habe mich mit der NS-Vergangenheit meiner eigenen Familie, vor allem meines Großvaters, auseinandersetzt, dazu recherchiert und geschrieben. Die Recherchen haben mich unter anderem in die Ukraine geführt. Ich habe mich dort mit den Auswirkungen von NS-Besatzung und Vernichtungskrieg auseinandergesetzt, an denen mein Großvater als Ordonnanzoffizier im Oberkommando des Heeres mitgewirkt hat. Vor Ort hatte ich aber auch Gelegenheit, mir die Geschichten von Betroffenen und Nachfahren zu vergegenwärtigen, die in meiner Familie eine Leerstelle waren. Die Dimensionen der Verfolgung und Vernichtung lassen sich allein durch die Beschäftigung mit dem Nachlass der NS-Täter*innen kaum fassen.
Manche Menschen wollen die Vergangenheit ihrer Vorfahren nicht aus antifaschistischen Motiven erkunden. Wann würden Sie einen Rechercheauftrag ablehnen?
Die Motive für eine Recherche können selbstverständlich vielfältig sein und müssen mir als Dienstleister nicht offenbart werden. Grundsätzlich gehe ich davon aus, dass die Recherchierenden an Fakten interessiert sind und sich auch für unangenehme Ergebnisse öffnen. Einen Auftrag, der offenbar zur Glorifizierung von NS-Täter*innen und zur Relativierung des Nationalsozialismus beitragen würde, würde ich nicht übernehmen.