Interview in der Jungle World vom 27.11.2014:
Anastasia Denisova aus Moskau arbeitet in der NGO Civic Assistance Committee (CAC), die seit 1990 vor allem Flüchtlinge, Migrantinnen und Migranten unterstützt. Vor kurzem war sie Referentin in Berlin, bei einer Veranstaltung von der Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft« zum Umgang von Gesellschaft und Staat mit rassistischer Gewalt. Mit ihr sprach die Jungle World über die Zunahme rassistischer Übergriffe in Russland.
Interview: Johannes Spohr
Beschreiben Sie bitte kurz die Arbeit des Civic Assistance Committee.
Unsere Organisation wurde 1990 gegründet und bietet seitdem vor allem Beratung und praktische Unterstützung von Flüchtlingen in Moskau sowie der Region Moskau an. Dabei kooperieren wir eng mit dem Netzwerk »Migration und Recht« der NGO Memorial. Die Migrantinnen und Migranten, mit denen wir arbeiten, haben sehr unterschiedliche Hintergründe und Herkünfte. Mein eigener Schwerpunkt liegt in der Arbeit mit Arbeitsmigranten, die vor allem aus zentralasiatischen Ländern kommen. Für diese Erweiterung des Tätigkeitsbereichs entschied sich das CAC erst 2008, als immer mehr Arbeitsmigranten kamen, die von Asylsuchenden, die unsere Einrichtung nutzen, an uns verwiesen wurden. Bei der Unterstützung von Geflüchteten arbeiten wir eng mit dem UNHCR zusammen. Ein ganz neuer Aufgabenbereich ist das Sammeln von Daten zu hate crimes und deren Dokumentation.
Was sind die Gründe, aus denen Klientinnen und Klienten am häufigsten zu Ihnen kommen?
Arbeitsmigranten haben oft Schwierigkeiten mit ihren Arbeitgebern. Die Beschäftigten haben etwa kaum Möglichkeiten, gegen Probleme mit der Arbeitserlaubnis, Zwangsarbeit oder die Verweigerung von Urlaub vorzugehen. Häufig haben sie zudem kaum Zeit, sich darüber Gedanken zu machen, da sie vor allem mit der Sicherung ihrer Existenz beschäftigt sind. Darüber hinaus sind sie besonders von hate crimes betroffen. In vielen Fällen benötigen sie medizinische Versorgung.
Unsere Sozialarbeiterinnen und -arbeiter hören erstmal einfach zu, ohne die Geschichten in Frage zu stellen. Es gibt dann verschiedene Möglichkeiten: Beschwerden einreichen, die Polizei informieren oder die Vermittlung von Anwälten und Übersetzern.
Für Kinder gibt es ein Zentrum für Integration und Bildung, wo Moskauer Lehrkräfte und Studierende grundlegende Fächer wie Mathematik und Russisch unterrichten. Die Bevölkerung bringt uns außerdem eine Menge Second-Hand-Sachen, die wir weitergeben.
Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit mit den Behörden und der Polizei?
Wenn Übergriffe überhaupt bei der Polizei gemeldet werden, endet es meist auf dieser Ebene, sie werden kaum weiterverfolgt. Ein Problem ist, dass Betroffene von der Polizei häufig nach Papieren gefragt und in Gewahrsam genommen werden, wenn sie keine besitzen. Das kann auch zu Abschiebung und einem Einreiseverbot von drei bis fünf Jahren führen. Um das zu verhindern, beantragen wir bei schwer verletzten Personen meist vorübergehendes Asyl aufgrund des Übergriffs selbst. Sonst haben diese Menschen keine Möglichkeit, überhaupt Gerichtsverfahren anzustreben.
Wenn wir der Polizei von rassistischen Übergriffen berichten, wird nur von einem Fall von »Extremismus« gesprochen, das Problem also nicht erkannt. Die Polizei ist nicht für den Umgang mit rassistischer Gewalt sensibilisiert, außerdem herrscht in der Politik eine gegen Migrantinnen und Migranten gerichtete Rhetorik vor, die ihre Wirkung entfaltet.
Welche Folgen hat das?
Die Probleme sind viel größer, als sich mit dem Begriff hate crime beschreiben ließe. Am Vorabend des 4. November, dem »Tag der Einheit des Volkes«, an dem in Moskau jährlich Tausende Rechte und Neonazis auf die Straße gehen, führte die Polizei beispielsweise in Moskau großangelegte Durchsuchungen durch und verhaftete etwa 7 000 Migrantinnen und Migranten. Für über 800 von ihnen wurde bereits eine Abschiebung beschlossen. Auch im vergangenen Jahr hat die Polizei nach rassistischen Ausschreitungen auf einem Markt in Birjuljowo viele der Angegriffenen festgenommen, von denen der Großteil aus dem Nordkaukasus kamen.
Seit Beginn dieses Jahres gibt es eine neue Kartei. Wer zu den bereits über eine Million darin erfassten Personen gehört, darf nicht mehr nach Russland einreisen, auch wenn die Kinder oder Ehepartner aus Russland kommen. Das führt schon jetzt dazu, dass sich weniger Migranten und Geflüchtete in Russland aufhalten.
Für sie ist die Atmosphäre in Russland zudem geprägt von Angst. Für Täter bei spontanen Übergriffen herrscht nahezu Straflosigkeit. Zwar hat der Staat nach 2008 begonnen, einige rechtsextreme Gruppen zu bekämpfen, nachdem diese begonnen hatten, Waffen und Bomben einzusetzen und politisch Aktive, Anwälte, Wissenschaftler und Richter umzubringen. Es kam zu einigen Gerichtsverfahren. Für die Opfer der täglichen Angriffe hat sich die Situation jedoch kaum verändert und so bekommen wir nach wie vor zahlreiche Berichte über physische Attacken auf der Straße.
Wie sehen diese Angriffe aus?
Ich kann von einem Beispiel erzählen: Direkt vor meiner Reise nach Berlin wurde ich Zeugin eines Angriffs in einem Regionalzug. Maskierte mit Baseballschlägern stiegen in den Zug ein, riefen rassistische Slogans und filmten sich dabei mit Smartphones. Sie suchten »nichtslawisch« aussehende Menschen, es entstand allgemeine Panik. Als die Maskierten Kontrolleure erblickten, flohen sie. Die white car genannte Methode ist in den vergangenen Jahren in Moskau zum Alltag geworden und geht häufig weniger glimpflich aus.
Ich erlebe immer wieder, dass Betroffene zunächst nicht genau verstehen, warum sie angegriffen wurden. Auch das habe ich vor kurzem erlebt: Ein Klient, der in Russland aufgewachsen ist und als Koch in Moskau arbeitet, wurde von 15 Menschen an der Bushaltestelle angegriffen und schwer verletzt. Er konnte die Tat erst einordnen, als ich feststellte, dass der Täter ein bekannter Neonazi war, für den offenbar das Aussehen meines Klienten ein Problem darstellte. Viele Angegriffene sind dann auch eher überrascht, wenn wir ihnen helfen. Das liegt an der Logik von hate crimes: Die Opfer werden nur deshalb ausgesucht, weil sie einer bestimmten Gruppe zugeordnet werden.
Das CAC ist eine NGO. Hat das neue Gesetz zur Registrierung »ausländischer Agenten« Auswirkungen auf Ihre Arbeit?
Ja. Das CAC wurde zunächst von der Staatsanwaltschaft überprüft. Dies wurde zu einer nicht enden wollenden Angelegenheit. Unser Buchhalter war nur noch mit dieser Sache beschäftigt, unsere Arbeit wurde also extrem gelähmt. Wir haben die Zusammenarbeit dann beendet und sind vor Gericht gegangen, das entschied, es habe sich nur um eine »geplante«, also reguläre Prüfung gehandelt. Daraufhin wurden wir erneut aufgesucht, um unsere Finanzen überprüfen zu lassen. Damit sollte bewiesen werden, dass wir »ausländische Agenten« sind. Die NGO Memorial wird inzwischen so bezeichnet, sie müssen für alles, was sie tun, einen Antrag stellen und Berichte erstellen. Allerdings versehen sie ihre Publikationen nicht mit dem Hinweis »ausländischer Agent«, was vermutlich erneut zu Problemen führen wird. Wir selbst befinden uns momentan in einem Schwebezustand. Aber irgendwas wird sicherlich passieren. So wird nicht nur bürokratischer Aufwand, sondern auch eine besondere Atmosphäre erzeugt.