Artikel in Der Freitag vom 6.12.2012
Machtgefälle. Kinder sind oft trotzig, Erwachsene wissen alles besser. Was passiert, wenn man diese Zuschreibungen hinterfragt? „Du sollst mich nicht immer ärgern!“ Ein frühmorgendlicher Streit zwischen mir und dem Vierjährigen, mit dem ich gemeinsam in einer Wohnung lebe, der aber nicht mein eigenes Kind ist: Er steht mit einem auf mich gerichteten Brötchenmesser vor mir und ist offensichtlich wütend auf mich. Den Grund habe ich vergessen, er spielt in dem Moment auch keine Rolle. Ich muss ihm unmissverständlich klar machen, dass ein Messer auf keinen Fall der Weg ist, um jemandem zu vermitteln, dass einem etwas nicht passt. Die für ihn sicherlich furchteinflößende Ansprache von mir lässt uns beide kurz erschrecken, aber wir vertragen uns auch wenige Minuten später. Wir sind schließlich Mitbewohner – und auch Freunde.
Auf der richtigen Seite?
Als ich danach kurz darüber nachdenke, fühle ich mich auf der richtigen Seite: Kinder brauchen Grenzen. Daran wachsen sie. Jede Grenze, die sie als solche erkennen, hilft ihnen, sich selbst im Spiegel der Grenzen Anderer zu erkennen. Der Morgen gerät in Vergessenheit.
Dann lese ich in einem Kreuzberger Frauenkulturzentrum von einem Critical-Adulthood-Workshop: „kritisches Erwachsensein“ soll für die Machtdiskrepanzen von Kindern und Erwachsenen und ihre Folgen sensibilisieren. Der morgendliche Streit fällt mir wieder ein. Es tauchen andere Szenen auf, andere Konflikte, Alltag im Zusammenleben zwischen Kinder und Erwachsenen: Hauen und Stechen um Anziehfragen, Essensverweigerung, die angemessene Menge an Zucker.
Zu den häufig ins Schrille, manchmal Hysterische abgleitenden Situationen gehört aber auch der meist längere Atem der Erwachsenen. Weil wir eben doch mehr – und damit besser wissen, was das Richtige ist, kompetenter sind, weil das so ist, Punkt. Doch was steckt hinter dieser großen Geste, wenn sie sich im direkten Erleben häufig auf Eskalationen in Meinungsverschiedenheiten reduziert? Als Nicht-Elternteil gerate ich häufig in Loyalitätskonflikte: Darf ich mich einmischen? Wer steht mir bei, wenn ich mal laut werde?
Das Phänomen Adultismus
Wir Erwachsenen beugen uns bewusst und unbewusst vielen Zwängen. Kinder lassen sich in diese erwachsenen Rechtfertigungen selten und nicht gern einbinden. Die Workshop-Ankündigung und auch meine Recherchen zu dem Thema lassen mir keine Ruhe.
Ich stoße auf das Phänomen Adultismus: die Diskriminierung von Kindern durch Erwachsene und im Zusammenhang damit auf viel zu viel allgemein Formuliertes im Stil von Elternzeitschriften, die ich nicht nur deswegen nicht lese, weil ich kein Teil der Zielgruppe bin.
Eher interessiere ich mich für die Komplexität von Machtverhältnissen und für eine differenzierte Übertragung von kritischen Analysen in alltagstauglichen Rat. Selbsternannte Experten tragen dazu nicht viel bei. Außerdem nervt mich sehr, dass es ein Erwachsenen-Thema bleibt.
Critical Adulthood verspricht mehr Ausgewogenheit: Etwas zu lernen über adultistische Diskriminierung, offensichtlich oder nicht, etwas zu lernen über die eigene Rolle in einer Machtbeziehung und sich dann im besten Fall mit Kindern und Erwachsenen gemeinsam heranwagen an all diese Situationen, die einem komisch vorkommen und häufig in grenzenloser Überforderung aller Beteiligten münden.
Die Groß-Klein-Rangordnung
„Das ist keine Therapie hier“, erklärt Manuela Ritz, Autorin, Schauspielerin, zweifache Mutter und langjährige Antirassismus-Trainerin. Hier – das ist eine Berliner Wohnung, draußen ist ein eiskalter Herbstsamstag. Ritz hat aus der mehrjährigen Erfahrung von Anti-Adultismus-Trainings und einer Dissertation zu dem Thema einen Workshop entwickelt. „Critical Adulthood“, sagt sie, „heißt nicht, Aussagen von Kindern über ihre Probleme mit erwachsenem Verhalten auszuwerten. Sondern es ist die Beschäftigung mit sich selbst und seiner Rolle in den Beziehungen mit Kindern.“ Bei aller Zuneigung: Wir entscheiden für Kinder, bevormunden sie, nehmen sie in ihrer Individualität nicht ernst. Wir verteilen Etikettierungen und beurteilen Entwicklungsschritte.
Meist, ohne es zu hinterfragen. Weil es eben normal ist: Wer erwachsen ist, ist groß, wer Kind ist, ist klein, Erwachsene machen wichtige Dinge, Kinder sind süß, trotzig, hören nicht zu. Das Unbehagen, das mich beschleicht, betrifft auch diese Zuschreibungen: Ich stecke mitten in der ersten Runde. Stereotype über Kinder und Erwachsene, getragen von gesellschaftlichen Normen und Werten, die Groß-Klein-Rangordnung, die mir Privilegien zugesteht, die rechtfertigt, was ich darf und was Kinder nicht dürfen.
Wer etwas über Critical Adulthood lernen will, kann dabei auch immer auf eigene Erfahrungen zurückgreifen: Alle Erwachsenen waren Kinder. Alle können sich erinnern, wie es war, von Erwachsenen auf ihr Kindsein reduziert zu werden. Theoretisch. Selten tauchen die negativen Erfahrungen mit adultistischem Verhalten in Kindheits-Erzählungen auf.
Wir glauben zu wissen, was mit den Eltern schief lief, können autoritäres Verhalten von anti-autoritärem Verhalten unterscheiden, wissen, dass wir in unseren jugendlichen Freiheiten beschränkt wurden, weil andere sie hatten.
„Aber meine Kindheit war eigentlich doch sehr schön.“ – Hinter den mitunter idealisierten Erinnerungen werden viele schmerzhafte Erfahrungen verdrängt. Erst beim näheren Hinsehen stellen sich Erinnerungen ein. Das heißt für die nächsten Tage des Workshops: viel nachdenken, sich erinnern, beschreiben. Die Beschämung bei Fehlern, das Überschüttetwerden mit Erwartungen. „Du bist doch intelligent, wie kann dir das passieren?“ Überhaupt die vielen an mich gehefteten Attribute: immer zu groß, sportlich, altklug, vernünftig, bockig und ernst, viel zu ernst. Und kritisch, aber nie im richtigen Maß.
Alles plötzlich sichtbar auf alten Fotos, auf denen ich oft ernst schaue. Meine fotografierenden Eltern mit ihrem „Guck nicht so grimmig!“ Wieviel davon hat bis heute meine Selbstwahrnehmung geprägt? Ich beschreibe mich selbst als Kind und finde ganz andere, neue Worte: traurig, allein, ängstlich, leichtsinnig, mutig und immer erstaunt.
Der Stinkefinger im Bild
Manuela Ritz erzählt, wie sehr sich Bilder, die sich Kinder von sich, ihrer Umgebung und anderen Menschen machen, von denen unterscheiden, die sich Erwachsene machen. Bei den Bildern von Kindern über Kinder gehe es viel weniger um Repräsentationen – stattdessen haben Nähe, Interessen oder auch offen geäußerter Protest viel mehr Raum. Welcher Erwachsene freut sich dagegen über den Stinkefinger im Bild, wenn es darum geht, eine als fotografisch wertvoll erachtete Situation festzuhalten? Ich habe nicht immer böse geguckt, manchmal auch traurig. Ich fand es doof, zu lachen, wenn mir nicht danach war. Erst als Erwachsene sagte ich: „Jetzt nicht!“ Kinder hören: „Ach, stell dich nicht so an!“
„Mit Erwachsenen ist es am schönsten, wenn sie einen wie sich selbst behandeln.“ Eine Aussage, die in der Forschungsgruppe von Ritz, in der sie Kinder nach ihren Erfahrungen mit Erwachsenen befragte, keine Ausnahme war. Kinder wollen ernstgenommen werden und Vertrauen bekommen. Sie wollen die Chance haben, Regeln abzulehnen, so wie Erwachsene das auch tun. Sie können Schein-Mitbestimmung schnell dekodieren.
Den Grund für den Streit mit meinem vierjährigen Mitbewohner hatte ich praktischerweise sofort vergessen. Ich hätte ihn auch fragen können, womit ich ihn so wütend gemacht habe – vielleicht nachdem ich meine Grenze in der Brötchenmesser-Situation gezogen hatte. Mit Kindern über sich selbst und ihre Anliegen zu sprechen, ist genauso wenig verkehrt, wie sie zu allem zu fragen, was sie auch betrifft.
Am Ende des Workshops nehme ich die Hoffnung mit, dass einige der Ideen von „kritischem Erwachsensein“ die Wirren meines nicht-elterlichen Erziehungsauftrags künftig erhellen werden.