Rezension in der Analyse & Kritik Nr. 641 / 18.9.2018:
Die polnischen Märzunruhen zählen zu den vielen Schauplätzen, die sowohl zu ihrer Ereigniszeit selbst wie auch im laufenden »Jubiläumsjahr« meist nebensächlich bearbeitet wurden und werden. Am 8. März 1968 protestierten in Warschau Student_innen gegen die polnische Staatsführung. Viele der jungen Oppositionellen kamen aus jüdischen Familien und organisierten sich im »Klub der Widerspruchsuchenden«. Der Historiker David Kowalski widmet sich in seiner Dissertation »Polens letzte Juden« diesem Kapitel linker Dissidenz, das auch Teil seiner eigenen Familiengeschichte ist. Wie viele Beteiligte emigrierten seine Eltern nach der den Protesten folgenden antisemitischen Propagandakampagne der Parteiführung nach Deutschland – das Land der Mörder vieler ihrer Familienangehörigen. Kowalski untersucht die Zusammenhänge von staatskommunistischer Parteipolitik und Orthodoxie, Polentum und jüdischer Identität, Herkunft und Zugehörigkeit und hält fest: »Die hohe Beteiligung von Studenten jüdischer Herkunft an den Warschauer Protesten war (…) Anzeichen eines letzten Aufbäumens der jüdischen Hoffnung in den Kommunismus.« Dass der Autor dicht an den Geschichten der Beteiligten schreibt, mit denen er zahlreiche Interviews geführt hat, macht die wissenschaftliche Schrift zu einem angenehm lesbaren und zugleich gehaltvollen Text. Er ließe sich auch zum Anlass nehmen, die Frage zu erörtern, warum das »polnische 68« linke Aktivist_innen in den meisten Ländern so viel weniger bewegte als andere Ereignisse.
Johannes Spohr
David Kowalski: Polens letzte Juden. Herkunft und Dissidenz um 1968. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2018. 256 Seiten, 45 EUR.