Zu unseren Projekten mit Wolfgang Seibert
Der Spiegel veröffentlichte in der Ausgabe vom 20. Oktober 2018 (Nr. 43) einen ausführlich recherchierten Artikel über den damaligen Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Pinneberg, Wolfgang Seibert. Darin wurde dieser als lebenslanger Betrüger und Hochstapler dargestellt, der mutwillig und mit böser Absicht erfunden habe, jüdisch zu sein und Überlebende der Shoah zu seinen Vorfahren zu zählen. Lediglich der letztgenannte Vorwurf ist für uns an dieser Stelle relevant und mit Konsequenzen verbunden. Wolfgang Seibert war Teil einer Veranstaltungsreihe zu biografischen Erfahrungen mit linkem Antisemitismus, die wir zusammen mit anderen Protagonist*innen seit 2014 durchgeführt haben. Daraus ist auch ein Buch entstanden, das 2017 im Neofelis Verlag erschien (Verheerende Bilanz. Der Antisemitismus der Linken- Klaus Rózsa und Wolfgang Seibert zwischen Abkehr, kritischer Distanz und Aktivismus). Schwerpunkt sind darin nicht die fragwürdigen Passagen zu Wolfgang Seiberts Biografie und Vorfahren. Sie erscheinen jedoch als keineswegs unwesentlicher Hintergrund der von ihm dargestellten Erfahrungen. Wolfgang Seibert hat auf unseren gemeinsamen Veranstaltungen einige Geschichten erzählt, für die es keine faktische Grundlage gibt. Dazu zählt etwa, seine Großeltern hätten das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz überlebt. Bei weiteren thematisch ähnlichen Geschichten ist die Herkunft nicht eindeutig zu ermitteln, sie speisen sich mitunter aus anderen Quellen als den innerfamiliären Erzählungen Seiberts und wurden in bestehende Narrationen eingeflochten. Das Phänomen der Quellenamnesie ist durchaus verbreitet, wird jedoch spätestens dann zu einem Problem, wenn jemand als öffentlicher Protagonist auftritt. Als solcher fälschlicherweise Geschichten über Verwandte zu erzählen, die angeblich die Shoah überlebt haben wiegt schwer – vor allem dadurch, dass es diejenigen verletzen kann, die tatsächlich Familienangehörige verloren, Überlebende in der Familie oder gar selbst die nationalsozialistische Verfolgung überlebt haben. So wenig, wie es im Nationalsozialismus lediglich Täter und Opfer gegeben hat, leben in Deutschland heutzutage lediglich Nachfahren von Tätern und Opfern. Kritisch zu hinterfragen ist jedoch die Sehnsucht vieler in Deutschland lebender Menschen, sich vor dem Hintergrund der Nationalsozialismus als Opfer zu betrachten – sei es durch ein geliehenes Selbstbild des jüdischen Opfers oder dem des Widerständlers, sei es durch Narrationen, die immer mehr nicht-jüdische Deutsche als Opfer definieren, etwa von Bombenkrieg und Vertreibung. Somit ist das Spannungsfeld fundamentaler Differenz zwischen Opfern und Tätern ein wesentliches Kriterium historischer Verantwortung. Der Öffentlichkeit in diesem Kontext Dinge zu erzählen, über deren Herkunft man sich nicht sicher ist oder die gar hinzugedichtet wurden, entbehrt der Verantwortung gegenüber der Geschichte der NS-Vernichtung, seines Nachlebens und Fortwirkens.
Wolfgang Seibert hat sich eine Familiengeschichte angeeignet, die nicht auf seine eigenen Verwandten zurückgeführt werden kann. Daran haben die gemeinsamen politischen Anliegen Schaden genommen. Wir halten daher eine weitere Zusammenarbeit in den genannten Projekten auf der jetzigen Kenntnisgrundlage für nicht tragbar. Stattdessen suchen wir weiterhin die hoffentlich auf lange Sicht klärende Auseinandersetzung. Von »Verheerende Bilanz« wird es in Absprache mit dem Verlag keine weitere Auflage geben.
Die hinter diesem Handeln liegenden Motive sind keineswegs unbedeutend, können jedoch an dieser Stelle nicht erörtert werden. Des Weiteren halten wir es für wünschenswert, verantwortungsvoll mit öffentlich verhandelten Informationen umzugehen und jeweils nur das zu sagen, worüber man gesichert Aussagen tätigen kann. Wir verweigern uns simplifizierenden Erklärungen mit hoher Suggestivkraft, wie sie etwa im Spiegel zu lesen waren. Wer bei der Analyse »falscher Geschichten« lediglich auf die Person abzielt, die diese erzählt hat, läuft Gefahr, es sich zu einfach zu machen. Wir halten es für wünschenswert, stattdessen das Verhältnis von individueller Verantwortung und gesellschaftlicher Erwartungshaltung in den Blick zu nehmen.
Wir bedanken uns bei allen, die sich an den Projekten beteiligt und uns in den Debatten der letzten Monate ihr Vertrauen entgegengebracht haben.
Johannes Spohr und Nina Röttgers, Februar 2019