Der Fall Marie Sophie Hingst und die deutsche »Erinnerungskultur«
Artikel in Neues Deutschland vom 17.8.2019:
Nachdem Marie-Sophie Hingst am 17. Juli 2019 tot in Dublin aufgefunden wurde, waren Erschütterung und Empörung fast so groß wie anderthalb Monate zuvor. Da hatte der »Spiegel« aufgedeckt, dass die jüdische Familiengeschichte, von der sie in ihrem preisgekrönten Blog »Read on my dear, read on« berichtet hatte, eine Erfindung war. Ganze 22 Opfer der Shoa hatte Hingst sich ausgedacht. Die promovierte Historikerin war so weit gegangen, ihre Fiktionen durch falsche Eingaben an die Gedenkstätte Yad Vashem untermauern zu wollen.
»Wer Holocaust-Opfer erfindet, verhöhnt im Nachhinein all jene, die wirklich von den Nazis gequält und umgebracht wurden«, bilanzierte Martin Doerry den Fall – der Autor des Textes, dessen Großmutter Lilli Jahn tatsächlich in Auschwitz ermordet wurde. Niemand wird bezweifeln, dass das Erfinden solcher mit der Shoa verknüpfter Geschichten abgrundtief geschmacklos ist. Marie Sophie Hingst hat gezeigt, welch perfide Antworten man auf die Frage finden kann, wie die Erinnerung von Lebens- und Verfolgungsgeschichten der Shoa fortgeführt werden kann, wenn Überlebende nicht mehr selbst berichten können. Und doch war auch Doerry nach dem mutmaßlichen Suizid der 32-jährigen Hingst mit harten Vorwürfen konfrontiert: Es sei problematisch, dass er sie zunächst unter einem Vorwand getroffen, dann überraschend konfrontiert und anschließend bloßgestellt habe; seine Geschichte sei zu persönlich vernichtend geraten.
Bereits im Oktober 2018 brachte der »Spiegel« eine ähnliche Enthüllung. Auch Wolfgang Seibert, dem der damalige Artikel galt, war öffentlich mit falschen Geschichten über Verwandte aufgetreten, die angeblich die Shoa überlebt hätten. Dabei war freilich die These des Artikels kritisiert worden, solche Fiktionen hätten zum Ziel, sich hinter dem »Schutzschild« jüdischer Identität »unangreifbar« zu machen – mehr als fragwürdig inmitten eines Aufschwungs rechter und antisemitischer Agitation und Aktion.
Dieses Argument, das auf ein nur individuelles Kalkül hinter solchen Lügengeschichten abstellt, wurde auch im Fall Hingst aufgegriffen, etwa vom »Tagesspiegel«. Doch zunehmend wird auch nach den Hintergründen solcher erfundenen oder fiktional »ergänzten« Biografien gefragt. Lässt sich auch eine große Welle derartiger Fälle kaum ausmachen, ist durchaus zu diskutieren, was an ihnen abzulesen ist – auch auf einer Ebene sozial verankerter Erinnerungsmuster.
Gewiss lässt sich mit solchen Geschichten persönlich Aufmerksamkeit erzielen. Seibert gab sie in einer eher randständigen linken Öffentlichkeit wieder und kam als Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde im norddeutschen Pinneberg in einigen regionalen und überregionalen Medien zu Wort; Hingsts Blog soll zu seinen »besten« Zeiten von fast einer Viertelmillion Menschen verfolgt worden sein. Doch verweist gerade ihr Fall zugleich auf übergeordnete, kollektive Denkweisen und Affekte: Die Strömung muss sehr stark gewesen sein, die sie dazu veranlasste, ihre Familie zu fiktionalisieren, von der sie – anders als der erheblich ältere Seibert – annehmen musste, dass sie kopfschüttelnd mitlas. Offenbar gibt es in Deutschland ein sehr starkes überindividuelles Bedürfnis, sich auf die Seite der Opfer zu drängen.
Schon vor gut 20 Jahren wurde dieses anlässlich des Falls von Bruno Dösseker auch wissenschaftlich zum Thema. Dösseker, ein 1941 als Bruno Grosjean geborener Schweizer, der als Kind aus einem Waisenhaus adoptiert wurde, hatte 1995 unter dem Namen Binjamin Wilkomirski die fiktive jüdische Autobiografie »Bruchstücke – aus einer Kindheit 1939 bis 1948« publiziert, die zunächst hoch gelobt und in zwölf Sprachen übersetzt wurde. Nach dem Auffliegen der Fälschung arbeitete der Züricher Historiker Stefan Mächler heraus, dass sich viele seiner Schilderungen tatsächlich auf seine schwierige Kindheit in der Schweiz bezogen und etwa Orte beschrieben, an denen er vor der Adoption untergebracht war. Diese Erinnerungen habe Dösseker dann in das Geschehen des Holocaust verschoben, wobei womöglich eine spezielle Psychotherapie der Auslöser war, die ihm verdrängte Kindheitserinnerungen wiedergeben sollte.
Nach Hingsts Tod wies Mächler im öffentlich-rechtlichen Sender SRF auf den Zusammenhang zwischen den individuellen und gesellschaftlichen Motiven solcher Selbsterfindungen hin: Sowohl ihr als auch Dössekers Fall ließen sich auch als Effekt eines opferzentrierten Erinnerungsmodus verstehen, der »auch eine Vermeidungsstrategie« darstelle, »um sich nicht mit den Tätern auseinanderzusetzen«. Schon Ulrike Jureit und Christian Schneider schrieben 2011 in ihrem Buch »Gefühlte Opfer«, dass die deutsche »Erinnerungsgemeinschaft« auf ein Opfer-Selbstbild abstelle, um einer »spezifisch deutschen Ambivalenz des Holocaust-Gedenkens« zu entgehen. Seit den 2000er Jahren habe sich in einer »erinnerungspolitischen Selbstermächtigung« eine »opferidentifizierte Erinnerungskultur« etabliert.
Einen Einblick in die »Aufarbeitung« liefert die 2018 und 2019 veröffentlichte »Memo«-Studie (»Multidimensionaler Erinnerungsmonitor«) des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) an der Uni Bielefeld. In der repräsentativen Umfrage gaben 18 Prozent an, unter den eigenen Vorfahren Täter des Zweiten Weltkrieges zu haben. Gleichfalls 18 Prozent glaubten, ihre Vorfahren hätten potenziellen Opfern geholfen. 54 Prozent bejahten die Frage, ob es unter ihren Vorfahren Opfer des Zweiten Weltkrieges gegeben habe.
Ein Anteil von 18 Prozent (Juden-)Helfer*innen entspräche auf dem Gebiet des Deutschen Reiches vor dem »Anschluss« Österreichs etwa 11,7 Millionen Menschen. Die Ausstellung »Stille Helden« in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand geht von nur 10 000 nicht-jüdischen Deutschen aus, die den 10 000 bis 12 000 im Deutschen Reich Untergetauchten halfen und 5000 davon das Überleben ermöglichten. In Yad Vashem werden als solche »Gerechte unter den Völkern« 627 Deutsche geführt.
Die Diskrepanz zwischen diesen Zahlen drückt eine verbreitete Imagination von Widerstand und Solidarität aus – und noch deutlicher eine Sehnsucht, Opfer zu sein. 54 Prozent Opfer-Nachfahren dürften kaum zustande kommen, ohne dass man nicht-jüdische Betroffene von Flucht, Vertreibung und Bombenkrieg dazuzählt – oder sich ein anderweitiges Opfer-Selbstbild zurechtlegt und aneignet, in Extremfällen wie Hingst und Seibert ein jüdisches. Zwischen dem wissenschaftlichen Erkenntnissen über die NS-Verfolgung, zwischen politisch-repräsentativen Verlautbarungen sowie dem gesellschaftlich Geglaubten liegt eine tiefe Kluft.
So rücken die Fälle Hingst und Seibert in den Fokus, wie es um die bundesrepublikanische »Erinnerungskultur« bestellt ist. Hingst hat nicht, wie es im WAZ-Nachrichtenportal »Der Westen« hieß, »fehlenden Respekt vor der Erinnerungskultur bewiesen«, sondern in einer wie auch immer gearteten individualpsychologischen Wendung unfreiwillig gezeigt, wie diese im Allgemeinen tickt. Die »Katastrophe« für die Erinnerungskultur, von der die »taz« sprach, besteht darin, dass dabei deutlich wurde, was diese auch ist – nämlich, wie die »Leipziger Volkszeitung« schrieb, ein »nationales Andenken (…), das zur Staatsräson gehört«. Der Sturm der Entrüstung, den Hingst auslöste, galt auch der Beunruhigung und Irritation, die sie in einem auf Selbstvergewisserung bedachten Erinnern hervorrief, das längst nicht mehr als Hemmnis, denn als Vehikel internationaler Politik verstanden wird.
Ruth Klüger, die mehrere Nazi-Lager überlebte, schrieb 1992 in ihrem Buch »weiter leben« einen bedenkenswerten Satz: »Ihr müsst euch nicht mit mir identifizieren, es ist mir sogar lieber, wenn ihr es nicht tut.« Zur Geschichte der »erfolgreichen Aufarbeitung«, auf die ein spezieller bundesdeutscher Nationalstolz abstellt, gehört auch, dass solche Stimmen lange kaum Gehör fanden. Es ist aber die Würde Überlebender und ihrer Angehörigen, die es gebietet, dafür zu sorgen, dass solche falschen Geschichten nicht erzählt werden. Und deutlich machen diese, dass in Wissenschaft wie Gesellschaft eine stärkere Problematisierung und Konkretion von NS-Täterschaft geboten ist.