Workshop vom 30.01.2020 bis 31.01.2020 in Frankfurt an der Oder / Słubice / Słońsk:
Im Januar 2020 jährt sich die gewaltsame Liquidierung des Zuchthauses Sonnenburg zum 75. Mal: Wenige Tage vor dem Heranrücken der Roten Armee erschossen deutsche Täter am 31. Januar 1945 im damaligen Osten Brandenburgs circa 800 InsassenInnen. Die TeilnehmerInnen des internationalen wissenschaftlichen Workshops wohnen den Gedenkveranstaltungen im heute polnischen Słońsk bei und kontextualisieren mit ihren Beiträgen den Massenmord als Teil der Gewalt, die nationalsozialistische AkteurInnen auf dem Rückzug nach Erreichen der Grenzen des sogenannten Altreichs freisetzten. Der Gefangenenmord von Sonnenburg wird konsequent zusammen mit der gewaltsamen Auflösung von anderen Institutionen des „Dritten Reichs“ betrachtet. Dazu gehören die Zwangsarbeiterlager entlang der damals im Bau befindlichen Autobahn Berlin-Warschau, das sogenannte Arbeitserziehungslager „Oderblick“ und die nachträglich als Todesmärsche gefassten „Evakuierungen“ der Konzentrationsla-ger, wie der des Komplexes Sachsenhausen.
Ziel des Workshops ist es, Praktiken der Auflösung von Staatlichkeit in Kriegs- und Gewaltsituationen vergleichend zu diskutieren. Dabei soll das geläufige Bild von Staatszusammenbrüchen als chaotische, gesetzlose Situationen hinterfragt werden. Welche und wessen „Gesetze“ gelten, wenn Staaten zusammenbrechen? Auch wenn der betroffene Staat nicht mehr über genügend Ressourcen verfügt, um das Gewaltmonopol über sein gesamtes Territorium auszuüben, hört er nicht umgehend auf zu existieren. Wie agieren Akteure der Staatsmacht, wenn diese erodiert? Wie ist zu erklären, dass Gefangene in Gefängnissen oder Lagern nicht zurückgelassen oder übergeben, sondern in der Mehrzahl und oft zeitlich unmittelbar vor dem Eintreffen der feindlichen Front verschleppt oder ermordet werden? Welche Annahmen liegen diesen Gewaltpraktiken zugrunde? Wie laufen die Räumungen und Exekutionen im Detail ab; wer führt sie durch? Besonderes Augenmerk wird dabei auf staatliche Gewaltakteure gelegt: Gefängniswächter, Lagerleitungen oder jene Erschießungskommandos des nationalsozialistischen Vernichtungskrieges, die 1944/1945 in das Altreich zurückkehrten. Arbeitshypothese des Workshops ist, dass in Situationen existenzieller Bedrohung, wenn die Ausübung von Herrschaft nur noch in zunehmend kleiner werdenden Räumen möglich ist, die geltenden Regeln und Grenzen der Funktionsweise staatlicher Institutionen in besonders radikaler Form sichtbar werden. Ein zentraler Grund dafür ist die situative Infragestellung der gegenseitigen Bedingtheit von Loyalität des Personals der Institutionen gegenüber dem Staat in kontingenten Extremsituationen.
In vergleichender Perspektive diskutieren die TeilnehmerInnen des Workshops das kritische Verhältnis von Raum, Zeit und Wissen in unterschiedlichen Prozessen der Auflösung von Staaten. Dabei sollen besonders die territorialen Veränderungen in Europa während des Ersten und Zweiten Weltkriegs in den Blick genommen werden. Präzise Kenntnisse über Dynamiken von Kriegsschauplätzen und -lagen wie über genaue Frontverläufe und Einschätzungen, wie schnell die Herrschaft über ein bestimmtes Territorium schwindet, waren entscheidend für die staatlichen Akteure in den sich in Auflösung befindlichen Institutionen. Welche Rolle spielte dieses Wissen für die getroffenen Entscheidungen über den Verbleib von Unterlagen, Gütern und Personen? Welchen Einfluss hatte die jeweilige Ideologie des bedrohten Staates für die Aufrechterhaltung von Institutionen in kritischen Situationen?
Ein Fokus des Workshops
liegt auf dem Zusammenhang zwischen der Auflösung von Staatlichkeit und
der Radikalisierung von Gewalt. Die Aufhebung staatlicher Ordnung ging
immer wieder mit dem Freisetzen verschärfter Gewalt einher. Anhand des
Umgangs mit Gefängnissen, Lagern und deren InsassInnen diskutieren die
TeilnehmerInnen, wie staatliche Stellen in kritischen Situationen (oft
selbst geschaffene) Dilemmata durch Gewalt zu beseitigen suchen. Durch
massenhafte Internierung versuchten die kriegsführenden Parteien in den
Weltkriegen des 20. Jahrhunderts Menschen auf Grundlage
unterschiedlicher Ideologien als vermeintliche Bedrohung für den Staat
zu isolieren. Durch ihre hohe Konzentration schufen sie damit aber
selbst das spezifische Problem, wie mit diesen Internierten im Moment
der eintretenden Auflösung von Staatlichkeit verfahren werden sollte.
Während strafrechtlich Verfolgte in der Regel amnestiert wurden, um
staatliche Ressourcen zu sparen, zeichnen sich bei politisch Verfolgten
und sogenannten GeheimnisträgerInnen zwei Optionen ab: Entweder erfolgt
die Evakuierung von Teilen der Institution – wobei in der Regel
räumliche und soziale Strukturen schwinden – oder die Internierten
werden in letzter Minute vor Ort ermordet. Der Workshop fragt nach
Symmetrien zwischen der Organisation, Erhaltung und Verschiebung oder
der Beseitigung des jeweiligen (Gewalt-)Raumes und den Ideologien
innerhalb des Raumes. So gerät auch die innere Handlungslogik der
Verantwortlichen während beider radikalen Optionen als Praktiken der
Auflösung von Staatlichkeit in den Blick.
Programm
Donnerstag, 30.1.2020
9.15 Eröffnung des Workshops in der Gedenk- und Dokumentationsstätte „Opfer politischer Gewaltherrschaft“ / Museum Viadrina
Konrad Tschäpe (Frankfurt/Oder): Ein Gefängnis als Infrastruktur staatlicher Gewaltausübung? Eine Einführung in die Geschichte des Tagungsortes
10.00 Panel I Modi des staatlichen Umgangs mit Gefangenen
Moderation: Claudia Weber (Frankfurt/Oder)
Thomas Rettig (Dresden): Auflösungen von Staatlichkeiten in den baltischen Provinzen während und nach dem Ersten Weltkrieg
Elisabeth Haid (Wien, Budapest): Rückzug, Staatlichkeit und der Umgang mit Internierten in Ostgalizien während des Ersten Weltkriegs
Felix Ackermann (Warschau): Kontext Kielce. Die Erschießung von 87 zu Landesverrat verurteilten Insassen des Gefängnisses Święty Krzyż im September 1939
Kommentar: Werner Benecke (Frankfurt/Oder)
11.30 Kaffeepause
12.00 Panel II Besatzungsregime und der Zerfall von Staatlichkeit
Moderation: Felix Ackermann (Warschau)
Johannes Spohr (Hamburg): Die Ukraine 1943/44: Staatlichkeit im Rückzug?
Martin Zückert (München): Doppelte Evakuierung: Gebietsräumung, Kriegsführung und Verfolgung in der Slowakei 1944/45
Kommentar: Markus Nesselrodt (Frankfurt/Oder)
13:00 Mittagessen
15.00 Panel III Akteure der Rückzugsverbrechen
Moderation: Janine Fubel (Berlin)
Christian Stein (Freiburg): Die Rückzüge der Wehrmacht 1941 – 1945
Markus Günnewig (Dortmund): „Die Betreffenden sind zu vernichten“ – Gestapoverbrechen in der Endphase des Zweiten Weltkriegs
Kommentar: Claudia Weber (Frankfurt/Oder)
16.30 Kaffeepause
17.00 Panel IV Die Verschiebung staatlicher Praktiken und das Kriegsende im NS-Gau Mark Brandenburg
Moderation Claudia Weber (Frankfurt/Oder)
Daniel Queiser (Berlin): Das Massaker. Die gewaltsame Räumung des Zuchthauses Sonnenburg in der Nacht vom 30. zum 31. Januar 1945
Janine Fubel (Berlin): Chronik einer Räumung: Die Endphase des Konzentrationslagerkomplexes Sachsenhausen 1945
Martin Clemens Winter (Leipzig): Todesmärsche als Gesellschaftsverbrechen. Ein Beispiel aus Brandenburg
Kommentar: Konrad Tschäpe (Frankfurt/Oder)
18.30 Diskussion über Leerstellen und Forschungsperspektiven zu Rückzugs- und Räumungsverbrechen
Moderation: Felix Ackermann (Warschau)
19:30 Abendessen
Freitag 31.1.2020
9.15 Das Arbeitserziehungslagers „Oderblick“ in Schwetig / Świecko, Matthias Diefenbach (Frankfurt/Oder)
9.45 Die Ausgrabungsarbeiten des Instituts für Nationales Gedenken auf dem eingeebneten Friedhof von Schwetig, Adam Kaczmarek (Poznań)
11.00 Besichtung der Ausstellung Muzeum Martyrologii w Słońsku, Einführung Hans Coppi (Berlin)
Alternativ: Gedenkgottesdienst für die Opfer nationalsozialistischer Herrschaft
12.00 Offizielles Gedenken für die Opfer der Auflösung des Zuchthauses in Sonnenburg, Museum des Märtyrertums, Słońsk
14.30 Mittagessen
15.30 Runder Tisch: Perspektiven für die Vermittlung von Wissen über nationalsozialistische Verbrechen
Carmen Lange (Below/Oranienburg)
Kamil Majchrzak (Berlin)
David Rojkowski (Berlin)
Konrad Tschäpe (Frankfurt/Oder)
Moderation: Felix Ackermann (Warschau)
16.30 Auswertung des Workshops
17.30 Ende
Anmeldung:
Die Anzahl der Plätze ist begrenzt. Verbindliche Anmeldung per
formloser E-Mail an Janine Fubel (fubeljan@cms.hu-berlin.de).
Kontakt
Janine Fubel
fubeljan@cms.hu-berlin.de