„Erinnerung an die Shoah und Nationalsozialismus? Och, da fischen Sie aber in einem leeren Teich“, sagt ein nicht unbekannter Soziologie-Professor vor etwa zwei Jahren, als ich ihm diesen Interessensbereich erläutere. Er meinte wahrscheinlich: „Das will doch keiner mehr hören“ und nicht etwa „Da gibt es nichts mehr zu holen“ – zumindest mag ich mir und dem ansonsten geschätzten Sozialwissenschaftler wünschen, dass wir uns eher auf diese Negativ-Analyse der deutschen Wissbegier einigen können, als dass wir uns über ein mögliches Potential von Berichten des Überlebens in der Shoah streiten müssten. Andere Sozialwissenschaftler finden ja zum Beispiel auch, dass man nicht mehr über Antisemitismus schreiben muss. Vielleicht waren sie während Thilo Sarrazins Bestseller-Lesereise auch grade im Forschungssemester auf den Lofoten.
Halt, sage ich mir schon an dieser Stelle: Nicht immer so mit Für und Wider herumdiskutieren, da weißt Du ja, wo das hinführt, da kriegen die meisten Leute diesen Schatten hinter ihren Pupillen und werden ungeduldig, weil sie dann erklären müssen, was ihnen irgendwie auch peinlich ist – wieso eigentlich? – nämlich: es nervt.
Da sind sich also – vermutlich, weil wir uns ja nicht streiten wollen – der Professor und ich einig: von einer Konjunktur des Genres Überlebensberichte aufgrund einer tieferen Einsicht in dessen Wichtigkeit, kann nicht die Rede sein. Da kommt man also mal lieber nicht gleich mit der privaten geschichtspolitischen Fahne um die Ecke geweht.
Verwechslungen
Das mit der fehlenden Konjunktur ist nun nicht erst seit zwei Jahren so. „Es ist doch wirklich alles gesagt worden“ – der Schlussstrich-Tenor im deutschen Nachkriegsland der Fünfziger, Sechziger. Es war dies eine Art Verwechslung, weil er meinte: „Verschont uns mit dem, was wir eh schon wissen.“ Heute wird es häufiger etwas anders genannt, nämlich: „Wer will, bitteschön, kann sich ja gerne erkundigen und das ist auch ehrenhaft und redlich und überhaupt, die Verantwortung sollte übernommen werden, etc. pp., aber wir haben doch unsern Schindler schon längst gelesen und immer die Kinder und jetzt gibt es doch auch das Denkmal und ich kann das einfach auch nicht mehr.“
Und es ist heute – auch eine Verwechslung. Es ist nämlich nicht so, dass, nur weil mittlerweile sehr viel Wissen zugänglich ist, es sich automatisch erübrigt, für bestimmte Epochen keine andere Erzählformen ausser historischen Dokumenten anzubieten. Es ist auch nicht so, wie häufig angenommen wird, dass das Berichten von der Shoah tatsächlich in der breiten Öffentlichkeit stattgefunden hätte – sind doch die wenigsten Menschen dazu ermutigt worden. Und – Drittens – geht es in den Erzählungen der Shoah auch nicht immer um das selbe.
Überleben in Lettland
Nein, es seien keineswegs ausschließlich „Zwangsarbeit, Leben im Ghetto, Lagerhaft“, die verarbeitet werden, sagt Jens Hoffmann. Die frühen Erzählungen, zum Beispiel von Primo Levi, Jean Améry oder Eugen Kogon, sind davon dominiert – aber denen sei es eben auch noch sehr stark um eine größtmögliche Vermittlung von Wissen gegangen. Hoffmann ist Autor von „Das kann man nicht erzählen. Aktion 1005 – wie die Nazis die Spuren ihrer Massenmorde in Osteuropa beseitigten“, herausgegeben im Jahr 2009. Die von dem Journalisten ausgewerteten Quellen erzählen dann natürlich sehr wohl – auf 450 Seiten berichten sie von der peniblen Auslöschung der Spuren von Massenverbrechen durch deutsche Täter. Keine Ausnahme als historischer Text, aber zu bislang noch Unerforschtem – fast 70 Jahre nachdem die ersten Einsatzgruppen ihre blutige Arbeit im Osten aufnahmen. „Harter Stoff“, wie man so schön sagt und wie es im Diskurs um diese Sorte Literatur hinter vorgehaltener Hand meist geflügelt daherkommt. Hoffmann hat ein neues Buch geschrieben und dafür die Archive verlassen, hat aufgeschaut von den Aktenbergen und den Blick auf eine „konkrete Überlebende“, eine noch lebendige Person gerichtet. Er hat die Biographie von Ruth Fridlendere aus der lettischen Kleinstadt Kuldiga aufgeschrieben. Vier Jahre hat Ruth als jüdisches Kind während des Zweiten Weltkriegs mit ihrer Mutter in einem Versteck in Lettland zugebracht – und hat dort überlebt. „Aber was ich genauso intensiv in den Blick nehmen wollte“, so Hoffmann – „Ruth hatte ein Leben davor und eins danach.“ Zum Zeitpunkt des Beginns der gemeinsamen Arbeit war sie bereits 75 Jahre alt und wollte genau davon auch erzählen – vom langen Leben nach ihrem demgegenüber kurzen Überleben. Weil sie es bis dahin noch nicht getan hatte – bis auf ein Interview anlässlich eines Symposiums zur Geschichte der Synagoge ihrer Stadt. Weil es bis dahin niemand hören wollte – da das Besondere jüdischer Verfolgung in den Sowjetrepubliken nicht gewünscht und erwünscht war. „Im besten Fall sind die jüdischen Ermordeten unter den allgemeinen Kriegstoten subsummiert worden,“ beschreibt es Hoffmann.
Hinter der Tür
Nach der Unabhängigkeit wiederum gab es massive andere, vor allem ökonomische Probleme der Menschen in Lettland – „was das Desinteresse nicht rechtfertigen soll“. Die Bemühungen, sich einem Teil der lettischen, der lettisch-jüdischen Geschichte zu widmen, waren jedenfalls gering. Und was ist mit der oft beschriebenen Sprachlosigkeit angesichts der Shoah? Das trifft es nicht, sagt Hoffmann: „Es hat sicher Gespräche in den Familien gegeben. Aber die Sanktionierung, die Angst vor gesellschaftlicher Ächtung, gar Verfolgung während der sowjetischen Zeit war sehr ausgeprägt. Diese große Scheu sei auch bei Ruth immer noch zu bemerken gewesen – die Frage danach, was man wo erzählen darf, um es dann doch lieber „hinter der geschlossenen Tür“ zu lassen. Und warum sie nicht nach Palästina und dann nach Israel gegangen sei? „Es gab immer ein großes Seufzen bei Ruth, wenn es darum ging, was geschehen wäre, wenn der Fluchtversuch, den sie im Herbst 1944 unternommen hatten, um nach Schweden zu fliehen, nicht gescheitert wäre. Später hätte sie es sich niemals leisten können. Die Überlegung: „Wie wäre mein Leben geworden, wenn ich nicht in Lettland hätte bleiben müssen?“, hat sie sehr beschäftigt.
Ich höre auch ein leises Seufzen, – ein Stöhnen? – ja doch, Lettland, ach und die ehemalige Sowjetunion – sollen die sich doch mit ihrer Geschichte beschäftigen – und denke: Immerhin hat wer bis hierhin gelesen.
Ruth Fridlendere hat die Veröffentlichung ihrer Biographie nicht mehr erlebt – am 22. Oktober 2009 ist sie in Lettland verstorben – kurz nachdem sie eine mit Jens Hoffmann geplante Reise nach Israel, ihre erste sollte es sein, wegen Krankheit abgesagt hatte.
Der Autor liest am 7. April 2011 aus „Aber wenn ich werd´ schreien, wird besser sein – Die Lebensgeschichte der lettischen Jüdin Ruth Fridlendere“. Ort ist „Das Institut“ in der Leonhardtstraße 10 in Berlin.