Der Bombenanschlag in Jerusalem hat den Blick wieder auf den Nahost-Konflikt gelenkt. Dieser ist von den Protesten im Maghreb nicht unberührt geblieben – trotzdem war das Interesse an Israel im Spiegel der arabischen Aufstände bislang gering. Mitten in der Jerusalemer Neustadt, am zentralen Busbahnhof, explodiert am Mittwoch um 15 Uhr Ortszeit der Sprengkörper, 39 Menschen werden verletzt, eine 60jährigeFrau stirbt später an ihren Verletzungen im Krankenhaus. Ein Anschlag in diesem Ausmaß hat Jerusalem seit geraumer Zeit nicht mehr getroffen – nach dem Überfall auf eine jüdische Religionsschule im März 2008 mit acht Toten verunsicherten zuletzt vor zwei Jahren Angriffe mit schwerem Baugerät die jüdische Bevölkerung in der politischen und religiösen Hauptstadt. Sie wurden vielfach als Reaktion auf die Offensive der israelischen Armee im Gaza-Streifen zum Jahreswechsel 2008/2009 gewertet.
Nun ist es die Hamas, die sich mit Bombengewalt im Feuerschein der Maghreb-Unruhen im israelisch-palästinensischen Konflikt wieder nach vorn wirft.
Seit dem vergangenen Sonnabend sollen nach israelischen Angaben mehr als 70 Marschflugkörper aus dem von der Hamas kontrollierten Gaza-Streifen aus abgefeuert worden sein. Ziele waren die 200.000 Einwohner zählende Wüstenstadt Beersheva, die normalerweise ausserhalb der Reichweite von Raketenbeschuss liegt, und das 15 Kilometer von der Grenze zu Gaza liegende Ashkelon. Am Mittwoch wurde ein Einwohner Beershevas von Splittern verletzt, die Bevölkerung der Stadt ist aufgefordert, sich in Schutzräumen aufzuhalten, der Schulunterricht fällt aus. Die israelische Armee beantwortete den Raketen-Ansturm am Dienstag mit den schwersten Angriffen seit dem Militärschlag gegen den Gaza-Streifen vor zwei Jahren.
Rache für diese Offensive soll die Bombe gewesen, aber es riecht noch nach einer anderen Rache – unter dem Eindruck der arabischen Aufstände hat die radikal-islamische Hamas mit dem sinkenden Einfluss auf die palästinensische Bevölkerung im Gaza-Streifen zu kämpfen und verstärkt angesichts dessen die Bemühungen, Israel militärisch zu treffen. Eine gewohnt blutige Rechnung, da es bei den Rückschlägen der israelischen Armee immer auch Verletzte bei der palästinensischen Bevölkerung gibt. Ohne Zweifel spekuliert die Hamas dabei auf einen Rücklauf von Sympathien, hofft auf eine Hinwendung zu ihrer Auffassung von fundamentalistischer Politik auf der Grundlage von Hass und Gewalt. Die dürfte weit von weniger Bewohnern des Gaza-Streifens aber auch von weniger Einwohnern des Fatah-regierten Westjordanlands geteilt werden, als es der Hamas recht sein kann. Ausgehend von Protesten in der libanesischen Hauptstadt Beirut am 11. März, bei denen die Entwaffnung der Hisbollah gefordert wurde, um so deren Einfluss auf die Regierungspolitik zu brechen, kam es in den darauffolgenden Tagen zu Kundgebungen in Gaza-Stadt, aber auch in Ramallah und Betlehem mit Tausenden von Menschen. Sie bekundeten ihre Solidarität mit den Aufständischen der naheliegenden oder unmittelbar benachbarten Länder und forderten eine Annäherung zwischen Hamas und Fatah. Die Aufrechterhaltung dieser Spaltung der erzrivalisierenden Parteien ist es, was der Hamas die Macht sichert. Eine Annäherung gibt es seit dem Beginn der politischen Fehde vor vier Jahren nur zu ihren Bedingungen. Deshalb muss sie im Zuge der arabischen Proteste ihre Chance wittern. Aber genau in der Forderung nach einer Überwindung dieser angeblich unüberwindbaren Feindseligkeit scheint ein Ziel auf, dass der Absicht der anderen arabischen Aufstandsbewegungen ähnelt – sich aus einem Zustand der Geißelung und Gängelung zu befreien. In Ramallah forderten am 15. März die Organisatoren einer Demonstration von Tausenden Menschen freie Wahlen für den Palästinensischen Nationalrat.
Last des Schweigens
Die Proteste und Forderungen im Westjordanland und in Gaza werden in Israel zum Teil zustimmend, zum Teil als bedrohlich wahrgenommen, für viele ist es auch wie ein banges Warten: Wie werden sich die Umbruchprozesse auf den israelisch-palästinensischen Friedensprozess auswirken? Bislang sei immerhin kein Bild einer israelischen Flagge verbrannt worden und man höre auf den Straßen, auf denen die Aufständischen protestieren, auch keine anti-israelischen Slogans, schrieb die konservative Jerusalem Post drei Tage vor dem Anschlag am Busbahnhof. Die Medien begleiteten die Aufstände bislang wohlwollend, die Nato-Intervention wird als nicht unbedingt gewinnbringend eingeschätzt. Die israelische Politik zeigt sich hingegen zurückhaltend gegenüber den Ereignissen in den umliegenden arabischen Ländern.
Es mag dies Ausdruck einer politischen Unfähigkeit nach jahrelangem aggressivem, mindestens gereiztem Schweigen zwischen Israel und arabischen Machthabern sein. Es mag sein, dass sich niemand ausmalen kann, welche Bedeutung für den lokalen Friedensprozess den Aufstandsbewegungen beigemessen werden kann, wenn die Möglichkeit Krieg. Es mag ein Zeichen der innenpolitischen Fixiertheit sein, weil von der omnipräsenten Besonderheit der eigenen Situation nicht abgelassen werden will – oder kann. Das geschäftige Befasstsein mit der Verurteilung eines ehemaligen Premiers zu sieben Jahren Haft wegen Vergewaltigung beiseite genommen – nicht an den Rand schieben lässt sich die Angst vor einer noch ausstehenden Reaktion des Irans auf den libyschen Umbruch und den möglichen Sturz eines seiner engsten politischen Vertrauten. Auch die für den Mai angekündigte zweite Gaza-Flottille, deren Pressebeauftragter
hofft, „dass die Umwälzungen in Ägypten den Druck auf Israel erhöhen werden, die Schiffe passieren zu lassen“, sorgt schon jetzt für Unruhe. Wer Israel eins auswischen will, dem ist so manches Mittel recht. Das israelische Aussenministerium hat verlauten lassen, sich nicht prinzipiell gegen den Hilfsgütertransports stemmen zu wollen. Nur die Nationalisten und radikalen Islamisten sollen die Länder bitte zuhause lassen, sagte Danny Ayalon, stellvertretender Aussenminister erst am Dienstag in einer Ministerrunde.
Der Druck auf Israel ist immer hoch und er wächst in Zeiten von Krise und politischen Umbrüchen, weil sich die Frage „Was heißt das für uns?“ immer aufdrängt. In diese Unsicherheit, in der sich dennoch gerade das eine oder andere Vorzeichen zu verändern andeutete, hat die Hamas nun hinein- und damit die Realität nach Israel zurückgebombt.