Als ich beginne, Saumlos vom im Dezember 2010 verstorbenen Peter O. Chotjewitz zu lesen, dass zum ersten Mal 1979 erschienen ist, frage ich mich, ob ich mich nicht mehr gegen literarische „Neuentdeckungen“ verwehren müsste. Dieser Impuls rührt wohl aus der häufig wiederkehrenden Erkenntnis, dass es niemals nur die Bücher gibt, auf die man glaubt, schon immer gewartet zu haben, sondern immer noch viel mehr Bücher, die es schon längst gibt und die man manchmal auch suchen muss. Zweimal kam Saumlos schon heraus, zumindest beim zweiten Mal konnte ich schon lesen, habe aber zu diesem Zeitpunkt die Dokumentationen nationalsozialistischer Verbrechen den thematisch zwar naheliegenden, aber etwas verwinkelten Schilderungen der postfaschistischen deutschen Psyche vorgezogen. Saumlos ist ein früher Ableger dieser Sorte und eine zeitlose Empfehlung.
Im Jahr 1979 war der Sieg über den Nationalsozialismus erst 34 Jahre her und über Antisemitismus, die Shoah, die nationalsozialistischen Verbrechen, war auf deutsch sehr, sehr wenig zu lesen und zu hören. Den Hinweis auf die autobiographischen Anteile der 2004 im Verbrecherverlag neu aufgelegten Erzählung hätte es im Grunde nicht gebraucht – schnell wird klar, dass die Beschreibung der Verhältnisse aus der Feder eines Menschen stammt, der nicht aufgrund von hervorragender Recherche die Lebenssituation in dem kurhessischen Dorf Saumlos so beschreibt, dass sie einem in viel zu kurzer Zeit die Gänsehaut auf die Unterarme treibt, sondern deshalb, weil er sie aus unmittelbarer lebensgeschichtlicher Erfahrung kennt. Das macht das Ganze nicht besser, sondern wie immer, wenn es um die Schilderung deutscher Normalität geht, schrecklicher.
Erich Plauth, verhinderter Journalist, kehrt Anfang der 1970er Jahre per Autopanne in das hessische Dorf seiner Kindheit der späten 1940er, frühen 1950er Jahren zurück. In Saumlos, gelegen im harznahen „Zonenrandbereich“ trifft er nicht nur alte Mitschüler wieder, die einen gewissen präpubertären Status nach wie vor nicht verlassen haben, sondern auch eine zugezogene junge Lehrerin. Während Plauth versucht, ihr Avancen zu machen, erzählt sie ihm, dass sie sich aufgrund einiger lokalhistorischer Recherchen gefragt hat, wie es kommt, dass es in der bereits einige Jahrhunderte alten Geschichte des Kaffs nachweislich einmal mehr jüdische Einwohner gegeben hat als christliche und dass sich das im Jahr 1938 „plötzlich“ geändert hat. Will heißen, deutsch und gründlich geändert hat – sogar in der ansonsten tadellos geführten Dorfchronik fehlen die Seiten, die vielleicht Auskunft geben könnten. Erich Plauth fällt daraufhin ein, dass es da ja mal einen verwilderten jüdischen Friedhof gab und ein Gebäude, das einmal eine Synagoge war. Zunächst noch recht eindeutig an die Attraktivität der jungen Frau geknüpft, stellt sich sein Interesse aus unbekannten Gründen allmählich auf eigene Füsse.
In die Beschreibung der Tage, die Plauth aufgrund der nur schleppend vorangehenden Autoreparatur in Saumlos erlebt, – sommerlich heiter und extra alkoholdünstend anlässlich der just günstigerweise stattfindenden Dorfkirmes -, mischen sich nach und nach historische Erläuterungen zur ebenfalls jahrhundertealten Geschichte der Juden und Jüdinnen Kurhessens. Diese waren oft abhängig, selten gemocht, häufig verfolgt und wurden 1938 mit Hilfe der Saumloser in die Vernichtungslager getrieben oder zum Wegzug gezwungen – es ist dies die Geschichte des deutschen Antisemitismus. Erich Plauth findet diese Hinweise und Berichte in der Sammlung der Lehrerin, in der Dorfchronik und in alten Geschichtsbüchern – und er sucht weiter, hin- und hergerissen zwischen wildschwitzender Festzeltheimkehr und der Arbeit am Selbstbild: unbestechlich, journalistisch, kriminalistisch. Apropos: Ist da etwa auch ein aktueller Mord am dörflichen Aussenseiter aufzuklären? Plauth, nur wenig schlauer als sein ehemaliger Schulfreund und jetziger Dorfbulle, übt sich auch noch in TV-reifer Ermittlung – allerdings erfolglos. Das Sprung- und Lückenhafte in Peter O. Chotjewitz‘ Erzählung lässt sich mitunter etwas schwer aushalten, aber nichts kann die Lücken, die das deutsche kollektive Gedächtnis sich so offenhält wie die Einfahrten zum Kartoffelacker, besser bebildern als ein Lückentext. Saumlos ist deshalb ein Glück, denn wer über die eliminatorische Kraft des Antisemitismus „in schön“ schreiben und lesen will oder Chotjewitz Unfertigkeit vorwirft, der ist entweder sehr leicht literarisch zu beleidigen oder der lebende Beweis dafür, dass Unannehmlichkeit hervorruft, was Peter O. Chotjewitz versucht hat, zu beschreiben: Das deutsche Gewissen und seine bürokratische Pestilenz, die niemals schweigen und immer nur dann in den Schrank gesperrt werden, wenn es um die (vernichteten) Juden und Jüdinnen ging.
Peter O. Chotjewitz: Saumlos, Verbrecher Verlag, 212 Seiten, 14.00 Euro
geschrieben für drift