Artikel in der Jungle World vom 10.1.2013.
Die Insassen der Berliner Gefängnisse haben seit Jahren mit Verschärfungen im Strafvollzug zu kämpfen. Insassen der JVA Tegel haben sich jetzt dagegen zur Wehr gesetzt.
»Die Berliner Gefangenen kündigen Hungerstreik und Revolte an!« Dieser markante Satz aus einem Offenen Brief, den verschiedene Gefangenenorganisationen Anfang Dezember veröffentlichten, sorgte für großes Interesse an einem Konflikt, der sonst wohl wie üblich weitgehend unbeachtet geblieben wäre. Die Redaktionsgemeinschaft der Gefangenenzeitung Der Lichtblick, die Gesamtinsassenvertretung der Justizvollzugsanstalt Tegel und die Gesamtverwahrtenvertretung der Sicherungsverwahrten hatten in ihrem an Justizsenator Thomas Heilmann (CDU) gerichteten Schreiben akute Probleme im Berliner Justizvollzug deutlich benannt. Die Zahl der Lockerungen der Haftbedingungen sei im Jahr 2012 deutlich zurückgegangen, es werde nur noch sehr selten vorzeitig nach Verbüßung von zwei Dritteln der Haftzeit entlassen und überdies habe Berlin die Doppelbelegung von Zellen wieder eingeführt. In Tegel würden darüber hinaus immer häufiger Ersatzfreiheitsstrafler, die eine geringe Geldsumme absäßen, in Hochsicherheitsbereichen inhaftiert. Behandelt werde in Tegel kaum jemand, insofern werde gegen den gesetzlichen Auftrag der »Resozialisierung« verstoßen. Schließlich stünden auch noch einige Sozialarbeiter, von denen es in Tegel ohnehin zu wenige gebe, vor der Kündigung.
»Die Leute waren’s satt«, meint Dieter Wurm, Redaktionsmitglied der Gefangenenzeitung Der Lichtblick, die in Tegel seit fast 45 Jahren unzensiert produziert wird. »Wir haben nicht gesagt, sie machen eine Meuterei, sondern wir haben es befürchtet«, stellt Wurm klar. Er sieht die Redaktion wie auch die Insassenvertretung in einer sozialen Verantwortung, daher habe man sich deutlich geäußert: »Was wir wollen, ist ein Dialog über die Zustände. Wenn es so weitergeht, ist zu befürchten, dass die Gefangenen tatsächlich revoltieren.« Ein anderer Inhaftierter berichtet, kursierende Zettel, die auf die Missstände hingewiesen hätten, seien sehr schnell von den Beamten eingesammelt worden.
Reaktionen blieben nicht aus. Bereits am Tag nach Veröffentlichung des Offenen Briefes vermeldete der Lichtblick, die Pläne zur Doppelbelegung und die angekündigten Kündigungen der frei angestellten Sozialarbeiter seien rückgängig gemacht worden. Auch zahlreiche Artikel in der Berliner Tagespresse widmeten sich dem Thema. Justizsenator Heilmanns Sprecherin Lisa Jani teilte mit, die Doppelbelegung sei »rechtlich zulässig, aber im Hinblick auf die Belegungssituation gegenwärtig nicht erforderlich«. Sie kündigte an, die Justizverwaltung werde »sich mit den seitens der Gefangenen erhobenen Vorwürfen umfassend auseinandersetzen und sie fair und objektiv prüfen«. Die Ausstattung des Sozialdienstes sei in Berlin mit 150 Mitarbeitern im Bundesvergleich gut, hieß es weiter. Ergebnisse der laufenden Untersuchungen sollen noch in dieser Woche vorliegen. Thomas Wende*, ebenfalls Redakteur des Lichtblick, ist der Meinung, eine solche Untersuchung sei überflüssig: »Alle wissen doch, wie die Zustände hier sind.« Doch auch wenn sich an den grundsätzlichen Problemen nichts geändert hat, sehen die Redakteure des Lichtblick ihren Offenen Brief durchaus als erfolgreich an.
Der Unmut der Gefangenen richtet sich vor allem gegen die zahlreichen Verstöße gegen den gesetzlichen Auftrag. Im Strafvollzugsgesetz heißt es, die Haft solle die Gefangenen dazu befähigen, »ein Leben in sozialer Verantwortung und ohne Straftaten zu führen«. Tatsächlich würden die Menschen, so Wurm, in der Regel einfach »verwahrt«, vermeintlich sichergestellt und im Anschluss ohne Vorbereitung entlassen: »Im gegenwärtigen System kommt es sehr oft vor, dass Gefangene wirklich auf den letzten Tag entlassen werden, ohne Entlassungsvorbereitung, ohne alles. Das heißt, sie werden quasi auf die Straße gesetzt.« Man verlasse sich vor allem auf die Angebote freier Träger wie der Berliner Stadtmission und beschäftige sich nicht wirklich mit den Gefangenen. »Es nützt nichts, die Strafe einfach sinnlos abzusitzen, sondern es ist wichtig, Strukturen zu schaffen und Lernprozesse durchzuführen.« Eine tatsächliche »Resozialisierung« sei nicht die Regel, sondern müsse individuell rechtlich erstritten werden. »Kein ernsthafter Wissenschaftler würde sagen, der Vollzug in der heutigen Form sei Resozialisierung«, meint Wurm. Auch Johannes Feest, Leiter des Strafvollzugsarchivs an der Universität Bremen, meint, das Leitideal der Resozialisierung sei längst von einem punitiven Diskurs verdrängt worden: »Seit über zehn Jahren gibt es die Tendenz, zu längeren Haftstrafen zu verurteilen und Lockerungen wesentlich seltener zuzustimmen.«
Paragraph 14 und 15 des Strafvollzugsgesetzes sehen Lockerungen im Vollzug vor, Paragraph 57 ermöglicht die »Aussetzung des Strafrestes bei zeitiger Freiheitsstrafe«, also nach zwei Dritteln der zu verbüßenden Haftdauer. Formuliert sind diese Paragraphen allerdings jeweils als »Kann-Paragraphen.« Es ist also von der Anstalt und den Gerichten abhängig, wie im einzelnen Fall entschieden wird. Dieter Wurm ist der Meinung, die vielzitierte schwierige Haushaltslage in Berlin dürfe nicht dazu führen, den gesetzlichen Auftrag zu vernachlässigen: »Wir haben einen verfassungsmäßigen Anspruch auf Resozialisierung, egal wie die Haushaltslage ist, das ist nicht unser Problem.«
Auch für Klaus Behr*, der sechs Jahre in Tegel inhaftiert war, kam die Lockerung viel zu spät. Erst drei Monate vor seiner Entlassung gab es vorbereitende Maßnahmen. Diese bestanden darin, dass er zwei Termine »draußen« in Begleitung eines Beamten wahrnehmen konnte – bei der Stadtmission und beim Bezirksamt. Ansonsten habe er keinerlei Vorbereitung bekommen. »Wenn ich bloß anderthalb Stunden rausrenne und hin und her fahre, das ist für mich keine Lockerung. Das sind ja bloß Pflichttermine«, so Behr. Auch er sieht seinen Fall als Beispiel für eine allgemeine Tendenz: »In Tegel wird kaum gelockert. Früher waren in Haus 6 80 Prozent gelockert, jetzt ist es nur noch eine Handvoll Leute.« Eine Anfrage an die JVA Tegel zur Anzahl der Lockerungen blieb bis Redaktionsschluss unbeantwortet. Lichtblick-Mitarbeiter Wende betont hierzu, Sühne habe im heutigen Strafvollzug nichts zu suchen. Das Strafvollzugsgesetz schreibe laut Paragraph 10 einen gelockerten Vollzug als Regel vor. Nur bei schwerwiegenden Gründen solle die Strafe zeitweise im geschlossenen Vollzug verbüßt werden. Die meisten Gefangenen müssten sich demnach im Offenen Vollzug befinden – das Gegenteil jedoch ist der Fall.
Wurm sitzt bereits seit über zehn Jahren in Tegel und sieht regelmäßig Entlassene zurückkommen. Er selbst hatte das Glück, in Tegel eine Ausbildung als Polsterer machen zu können und nun in der Redaktion des Lichtblick tätig zu sein: »Ich wurde hervorragend unterstützt, aber ich musste dafür kämpfen. Das ist die Ausnahme. Viele können das eben nicht.« Die befürchtete Kündigung von Sozialarbeitern würde die ohnehin problematische Lage verschärfen. Momentan kommen auf einen Sozialarbeiter in Tegel je nach Abteilung zwischen 30 und 60 Gefangene. Für 90 Gefangene gibt es laut Wurm einen Bewährungshelfer. Unter diesen Bedingungen könnten sich die Inhaftierten weder mit der eigenen Vergangenheit auseinandersetzen, noch mit den haftbedingt entstandenen Schäden.
Hintergrund der kurzfristig wieder praktizierten Doppelbelegung ist die Schließung des Bereichs Lehrter Straße der JVA Plötzensee zum Jahreswechsel. 104 Haftplätze fallen dadurch weg. Inhaftierte mussten sich teilweise die acht Quadratmeter kleinen Zellen teilen. Dass nun auch noch Menschen mit geringen Geldstrafen in Hochsicherheitsbereichen, teils zusammen mit lebenslänglich Inhaftierten säßen, hat bei den Gefangenen für große Irritation gesorgt. Die zu 98 Prozent ausgelastete JVA Tegel wird sich wohl erst wieder mit der Eröffnung der neugebauten JVA Heidering leeren. Diese ist für 2013 vorgesehen. Doch auch in Tegel wird derweil gebaut. Vor kurzem wurde der Grundstein für eine neue Teilanstalt gelegt, in der zukünftig die Sicherungsverwahrten den geltenden Gesetzen entsprechend in größeren Zellen untergebracht werden sollen. Gegen eine hausinterne Verlegung, die nur eine improvisierte Lösung des Problems bedeutet hätte, hatten viele von ihnen protestiert.
Dieter Wurm erinnert in Anbetracht der sich verschärfenden Situation an Unruhen in Hamburger Gefängnissen während der Amtszeit des Innensenators Ronald Schill: »Da ist die Verwaltung bis heute mit beschäftigt. In der Regel müssen die Menschen, die einsitzen, irgendwann entlassen werden, und das müssen die Menschen draußen mal verstehen.«
* Name geändert